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Doppelschlag von Cormac McCarthyZwei neue Romane des 89-Jährigen

Lesezeit 3 Minuten
Der Us-amerikanische Autor Cormac McCarthy posiert in rauer Kulisse.

Ein Gesicht wie ein gut gealterter Westernheld: Erfolgsautor Cormac McCarthy

Vor 16 Jahren erschien zum letzten Mal ein Roman von ihm - doch Thriller-Fachmann Cormac McCarthy zeigt, dass er auch im fortgeschritten Alter immer noch ein Ass in Sachen Spannung ist.

Ein Bergungstaucher mit Tiefenangst dringt 1980 vor der Küste von Mississippi zu einem abgestürzten Privatflugzeug vor. Er findet im Wrack neun Leichen, nicht aber den Flugschreiber. Und bekommt bald Besuch von Agenten (FBI, CIA?), die behaupten, dass ein Passagier mehr an Bord war. Bobby Western, zuvor Physiker und Autorennfahrer, wird noch mehrfach vernommen werden, seine Wohnung durchwühlt, Konten gesperrt und den Maserati gepfändet vorfinden.

Die Thrillerverheißung aber bleibt unerfüllt, der Fall in kafkaeskem Halbdunkel. Bei Cormac McCarthy verwundert dies kaum, denn schon die Bände seiner „Border-Trilogie“ sahen nur wegen ihrer Kulisse wie Western aus. Tatsächlich waren sie radikale Studien menschlicher Grausamkeit in einer gleichgültigen Natur.

Eigentlich glaubte man ja, der Mann aus Rhode Island habe vor 16 Jahren mit dem Endzeitdrama „Die Straße“ einen Schlusspunkt gesetzt. Doch nun legt der 89-Jährige gleich zwei im Wortsinn verschwisterte Romane vor: „Der Passagier“ und „Stella Maris“.

Bobby und Alicia

Das erste Buch erzählt vor allem von Bobby. Wie er in den Lokalen von New Orleans herumhängt, mit Kollegen, versoffenen Alltagsphilosophen oder einer attraktiven Transfrau. Dabei wirkt der Taucher seltsam abwesend, wie ein Mann, der an seiner Lebenswunde langsam verblutet.

Den Stachel setzte die unerlaubte Liebe zu seiner jüngeren Schwester Alicia, einem hinreißend schönen Mathematik-Genie, das sich schon mit 20 umgebracht hat. In „Stella Maris“ wird man sehen, wie diese unerfüllte inzestuöse Sehnsucht gleich zwei Existenzen versengt. Doch schon „Der Passagier“ bringt Alicias Wahnsinn ins Spiel. So halluziniert sie gespenstische Gefährten herbei, vor allem jenen flossenarmigen „Contergan-Zwerg“, der einen bizarren Zirkus dirigiert. Hier öffnet McCarthy virtuos den Vorhang zur Albtraumwelt von David Lynch.

Von dramaturgischer Ökonomie aber hält er wenig, wie seitenlange Exkurse über Quantenmechanik, Stringtheorie sowie Quarks und Photonen beweisen. Der offenbar fachkundige Autor sondiert nichts Geringeres als den Ursprung des Universums. Überdies pflügt er im Morast amerikanischer Traumata. Man liest irrlichternde Vietnam-Szenen sowie eine ballistische Expertise des ersten Kennedy-Mordes, die Lee Harvey Oswald als Todesschützen ausschließt.

Damit nicht genug, schließlich hat Alicias und Bobbys Vater mit Oppenheimer & Co. jene Bomben konstruiert, die 1945 über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden. Der Sohn denkt darüber so: „Sein Vater. Der aus dem absoluten Staub der Erde eine böse Sonne geschaffen hatte, in deren Licht die Menschen wie eine grässliche Ankündigung ihres eigenen Endes durch Stoff und Fleisch hindurch gegenseitig die Knochen in den Leibern der anderen sehen konnten.“

Da ist sie wieder, die unglaubliche Sprachgewalt, die dieser Schriftsteller entfesselt. Der verbale Donner hallt durch eine grandiose Romanruine voller Schreckenskammern und Geheimgängen. Man verläuft sich zwangsläufig – aber keineswegs ungern.

Paralleluniversen oder Wahnfantasien?

Das zweite Werk macht scheinbar alles klarer. 1972 steht die 20-jährige Alicia mit 40 000 Dollar in einer Plastiktüte vor der Klinik Stella Maris. Im atemlos-brillanten Dialogpingpong von sieben Sitzungen erforscht ein Psychiater dort ihre paranoide Schizophrenie. Alicias Genie flammt in sarkastischem Witz und jenen mathematischen Hochseiltänzen auf, an denen sie gleichzeitig irre wurde. Dann das Rätsel: Während Bobby in „Der Passagier“ jahrelang um seine tote Schwester trauerte, erzählt sie nun, dass ihr Bruder hirntot nach einem Rennunfall in Italien liege. Paralleluniversen oder Wahnfantasien?

Wichtiger scheint ohnehin Alicias Untröstlichkeit über den Verlust ihrer einzig möglichen Liebe. Früh spürte sie ihren Todeswunsch, denn letztlich wusste sie immer, „dass unter der Oberfläche der Welt ein kaum gebändigter Horror lag und immer schon gelegen hatte“.

Cormac McCarthy hat oft die letzten Dinge durchleuchtet. Doch nie so zart und todtraurig wie mit dieser unvergesslichen Frauenfigur.

Cormac McCarthy: Der Passagier, deutsch von Nikolaus Stingl, 525 S., 28 Euro. Stella Maris, deutsch von Dirk van Gunsteren, 231 S., 24 Euro. Beide im Rowohlt-Verlag.