Dirk Roßmanns Thriller „Der neunte Arm des Oktopus“Tollkühner Salto in die Utopie
Köln – Vergessen Sie alles Böse, was Sie je über Wladimir Putin gehört haben. Denn kaum hat ihm sein Freund Gerhard Schröder Sy Montgomerys Buch „Rendezvous mit einem Oktopus“ in die Hand gedrückt, ist der russische Präsident die ökologische Sanftmut selbst. Wenig später lässt er sich neben der Autorin am Bostoner Aquarium vom achtarmigen Tintenfisch Ruddy abtasten, und 2022 beschließt er mit Chinas Staatschef Xi Jinping und dem (ungenannten) US-Präsidenten eine radikale Umkehr in der Klima- und Rüstungspolitik.
Was leicht wie ein Werk neuzeitlicher Brüder Grimm wirken könnte, stammt tatsächlich vom Drogeriemarkt-Pionier Dirk Roßmann. Unterstützt von einem stattlichen Recherche- und Autorenteam, lässt der 74-Jährige seiner Autobiografie „… dann bin ich auf den Baum geklettert!“ nun einen Roman folgen: „Der neunte Arm des Oktopus“.
Seinen Glauben, dass Bücher die Welt verändern können, bewies Roßmann schon, als er 2019 Jonathan Safran Foers Werk „Wir sind das Klima!“ großflächig verschenkte. Nun trieb ihn die Sorge um die Erderwärmung zu einem tollkühnen Salto vorwärts in die Utopie. Zunächst blinken überall die dystopischen Warnleuchten: Tauende Permafrostböden in Sibirien geben Milzbranderreger frei, während Mumbai in Monsungüssen zu ertrinken droht und Afrika an Dürre und Überbevölkerung leidet.
Das Kommuniqué der drei wundersam einigen Großmächte (G 3) aber reißt das Steuer kurz vor zwölf herum, indem es weltweit radikale Ressourcenschonung anordnet und alle Krisenfeuer von Nahost bis Nordkorea Korea löschen will. Das frühzeitig aufblitzende Happy End wird mit einem Blick ins Jahr 2100 bestätigt, denn da sind die internationalen Superhirne der neuen Zeit in Paris versammelt.
Sie essen abfallfreies Kunstfleisch, tüfteln am bionischen Übermenschen oder lassen sich, wie der 105-jährige Maximilian Gundlach, von einer Pflegeroboterin umhegen. Und im Aquarium von Michelle, der Direktorin der Uni für Nachhaltige Ästhetik, schwimmt natürlich auch jenes urzeitliche Wundertier, das die meisten Neuronen in seinen acht hochsensiblen Multitasker-Armen hat. Gundlach kann sich als einziger an jene drei Jahre nach 2022 erinnern, als die klimapolitische Vollbremsung beinahe doch noch zu einem Totalschaden geführt hätte. Es ist schon eine halsbrecherische Romandramaturgie, zunächst fast alle Spannungsfunken zu ersticken, um sie dann doch wieder anzufachen. Und das gelingt sogar erstaunlich gut.Roßmann nämlich stellt den Öko-Pazifisten etliche Finsterlinge entgegen: Geheimdienstler, Generäle und Waffenhändler, die ihre Felle wegschwimmen sehen. Vor allem aber Brasiliens Präsident Batista, der sich die Brandrodung der Regenwälder auf keinen Fall verbieten lassen will. Und koste es einen verheerenden Atomkrieg.
Ähnlich wie in Frank Schätzings apokalyptischem Thriller „Der Schwarm“ sind die Zeitzeugen apart über den Globus verstreut, wobei hier leider weder die nigerianische Krankenschwester noch die indische Lehrerin markantes Profil gewinnen. Zudem haben die Auftritte von Kamala Harris und Bill Gates eher Namedropping-Effekte, während Ricardo da Silva, ein Koch aus São Paulo, zum schillernden Helden avanciert. Der Spagat zwischen Weltenrettung, hoher Politik und Groschenroman-Elementen (der böse schwarze Waffenschieber!) wirkt arg überdehnt, und die Plausibilität der Story entspricht eben der eines Wunschtraums.
Dennoch hat das Buch Unterhaltungsqualität – und ein Ende, das den verblüffenden Titel originell erklärt.
Dirk Roßmann: Der neunte Arm des Oktopus. Roman, Lübbe-Verlag, 385 S., 20 Euro.