Buch von Deniz YücelPressefreiheit in Zeiten des Flüchtlingsdeals
Köln – Für jeden Autor ist es ein großes Kompliment, wenn jemand alle seine Texte liest. Ist dieser Jemand allerdings vom Presse- und Informationsamt in Ankara und übersetzt die Texte mehr oder minder korrekt ins Türkische, dann klingt das Kompliment doch eher wie eine Drohung. Ab jetzt hat der Beamte jedenfalls noch mehr Arbeit vor sich, denn Deniz Yücel, der unfreiwillige „Posterboy der Pressefreiheit“, hat ein neues Buch geschrieben: „Agentterrorist – Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtsodemokratie“ (Kiepenheuer und Witsch, 400 Seiten).
Die Bezeichnung Agentterrorist („ajan terrörist“) geht auf eine Rede des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zurück, in der er Yücel und andere inhaftierte Journalisten diffamierte sowie indirekt bedrohte. Yücel arbeitet seit zwanzig Jahren als Journalist; 2015 wurde er Türkei-Korrespondent der Welt. Von 2017 bis 2018 war er ein Jahr lang im Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul inhaftiert, dem größten Gefängniskomplex Europas und „größten Journalistenknast der Welt“. Er berichtet von Demütigungen, Isolationshaft und Folter, die er und andere Gefangene erlitten haben. Journalistinnen und Journalisten leben in der Türkei gefährlich. Für ihre Arbeit drohen ihnen lange Haftstrafen; Mordanschläge auf sie werden selten aufgeklärt. Nach dem Putschversuch von 2016 rief die Regierungspartei AKP den Notstand aus, sodass es noch einfacher wurde, RegierungskritikerInnen ohne Anklage zu verhaften. Sich faktenbasiert kritisch zu äußern gehört allerdings zum journalistischen Berufsbild wie Unterdrückung und Pressezensur zu einer „Nichtsodemokratie“.
Mit viel Humor und Kampfgeist erzählt Yücel seine sehr persönliche und gleichzeitig hochpolitische Geschichte. Zumindest kann er Erdoğan zugutehalten, dass er durch die Inhaftierung dazu kam, sein Türkisch zu verbessern, zu heiraten, und ab und zu sogar Sport zu treiben. Wo andere sich im Selbstmitleid suhlen würden, reißt Yücel lieber noch einen Witz. Ansonsten kommt Erdoğan im Buch schlecht weg, jedoch nicht, weil Yücel ihn beleidigt, sondern weil er ihn zu Wort kommen lässt. Zitate wie „Manche Bücher sind gefährlicher als Bomben“ sprechen für sich.
Ohne Anklage in Haft
Staatsanwalt Hasan Yilmaz wirft Yücel in einem bizarren Verhör Terrorismuspropaganda und Volksverhetzung vor. Dabei bezieht sich Yilmaz ausschließlich auf Texte, die in Deutschland erschienen sind. Unter anderem legt er Yücel zur Last, den Völkermord an den Armeniern Völkermord genannt zu haben. Obwohl Yilmaz auch nach dem Verhör keine logische Grundlage für seine Anschuldigungen findet, ordnet der Richter Mustafa Çakar Untersuchungshaft an. Dem Richter winkt bald darauf eine Beförderung.
Filmproduzentin und Dichterin Dilek Mayatürk-Yücel zieht von München nach Istanbul, um Yücel vor Ort zu unterstützen. Schnell wird „der Fall Yücel“ zum Vollzeitjob: Gemeinsam mit dem Freundeskreis, seinen Anwälten, der Redaktion und vielen anderen kämpft Mayatür-Yücel für Freilassung ihres Mannes. Die Hochzeit der Beiden findet im Silivri-Gefängnis statt.
Literatur hinter Gittern
Nach dem Putschversuch von 2016 wurden nicht nur hunderte Journalisten und Journalistinnen verhaftet, sondern auch alle mutmaßlichen Oppositionellen aus dem Staatsdienst entfernt. Yücels Zellennachbarn sind ehemalige Polizei- und Justizbeamte, die der Regierung ein Dorn im Auge sind, so kurz vor dem Verfassungsreferendum von 2017, das Erdoğan zu mehr Macht in seiner Funktion als Staatspräsident verhelfen wird. Die Gefängnisbibliothek führt Bücher von Autorinnen und Autoren, die politische Gefangene waren oder sogar selbst in Silivri einsitzen. Das kommt Yücel zuerst ironisch vor, bis er erfährt, dass Turhan Günay, Langzeit-Chefredakteur der Cumhuriyet-Literaturausgabe, die Gefängnisleitung so lange mit Anträgen aus seiner Zelle heraus nervte, bis er den Bücherbestand von unter 2000 auf 30 000 erweitert hatte. Es ist mehr als eine nette Anekdote. Yücel hat im Gefängnis gelernt, dass er erst recht in einer Extremsituation seinen Gegner analysieren und mit Hilfe seines Intellekts um seine Freiheit kämpfen muss. Er schafft es sogar, nachdem er längst zum Spielball bilateraler Politik geworden ist, sich ein gewisses Maß an Selbstbestimmung zu zurückzuerobern. Vor allem, indem er schreibt. Die Sprachbarriere zu seinem Vorteil nutzend, kann Yücel umfangreiche auf Deutsch verfasste Texte an seinen Anwalt weitergeben, obwohl das Vollzugspersonal sie kontrolliert.
Yücel hätte den damaligen Außenminister Sigmar Gabriel und die gesamte Bundesregierung wahrscheinlich mit seiner starrköpfigen und manchmal auch abgehoben wirkenden Art in die Verzweiflung getrieben, wäre er im Gefängnis nicht regelmäßig mit Süßigkeiten, Zigaretten und Nachrichten über die Befindlichkeit seiner Katze bei Laune gehalten worden. Doch am meisten Kraft gibt ihm die Welle der Solidarität, die sogar bis in die Gefängniszelle herüberschwappt. Das Ausmaß der Solidaritätsbekundungen mit und Kampagnen für Yücel ist beeindruckend. Selbst ein Abgeordneter der AKP traut sich, Yücels Inhaftierung als „problematisch“ zu bezeichnen. In der schnelllebigen Medienwelt werden Redaktionen und Prominente nicht müde, Yücels Freilassung zu fordern, anstatt wie üblich nach ein paar Twitter-Äußerungen zur nächsten großen Debatte oder dem nächstbesten Skandälchen überzugehen. Wenn andere inhaftierte JournalistInnen auch nur einen Bruchteil dieser Aufmerksamkeit erhielten, würde das vielleicht nicht für ihre Freilassung reichen. Doch die Gefangenen wüssten immerhin, dass man sie nicht vergessen hat.
Das ambivalente Verhältnis zwischen Türkei und EU
Obwohl es in „Agentterrorist“ vor allem um sein Jahr im Gefängnis geht und diejenigen, die ihm halfen, porträtiert Yücel in seinem Buch auch das ambivalente Verhältnis zwischen der Türkei und der Europäischen Union. Seit nunmehr sechzig Jahren betrachtet Westeuropa die Türkei als privilegierten Partner, nicht mehr und nicht weniger. Seit zwanzig Jahren ist die Türkei Beitrittskandidat der EU. Eine Aufhebung der Schengen-Visumspflicht für türkische Staatsangehörige kommt für die EU allerdings erst seit Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges infrage. Denn die Türkei hat seitdem mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land der Welt, während die EU ihre Außengrenzen verstärkt hat. Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei ist einer der Gründe, warum sich die Bundesregierung auch heute so zaghaft zu den Menschenrechtsverletzungen äußert, die die türkische Regierung weiterhin auf ihrem Territorium und in Nordsyrien begeht. Ausgerechnet am 10. Oktober, als Yücels Buch erscheint, erleidet Erdoğan einen erneuten öffentlichen Wutausbruch und das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) berichtet von zwei neuen Verhaftungen kritischer Berichterstatter.