Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Buch von Salman Rushdie„Wir hinterlassen eine intolerante, rückwärtsgewandte Welt“

Lesezeit 4 Minuten

Salman Rushdie

Frankfurt/Main – Die Jungen müssen es richten. „Zweifeln Sie nie daran: Sie können die Dinge verändern“, ruft Salman Rushdie den Absolventen einer US-Hochschule und entschuldigt sich „für das Chaos, das wir Ihnen hinterlassen“. Seine Generation habe sich stets für progressiv und tolerant gehalten, bekennt der 1947 in Bombay Geborene, „und doch hinterlassen wir Ihnen eine intolerante, rückwärtsgewandte Welt“.

In Vorlesungen und Vorträgen, Nachrufen und Vorworten, Essays und Artikeln kann man den Menschen Salman Rushdie noch besser kennenlernen. Der Band „Sprachen der Wahrheit“ versammelt Schriften von 2003 bis 2020 und ist eine Fund- und Schatzgrube für die Fans seiner Bücher („Die Mitternachtskinder“), aber auch für diejenigen, die den Namen nur aus den Nachrichten kennen, seit Rushdie nach den „Satanischen Versen“ von islamischen Fundamentalisten mit den Tod bedroht wurde.

Begnadeter Fabulierer

Es geht natürlich um Literatur, aber auch um Politik, Gesellschaft, Filme, Freunde, und wie immer bei diesem quecksilbrigen Geist kommt er von Hölzchen auf Stöckchen, von Heraklit auf JRR Tolkien auf Popeye auf Vampir-TV-Serien. Rushdie beweist sich auch in der kleinen Form als engagierter Weltbürger, kultureller Allesfresser und begnadeter Fabulierer. Die Übersetzung von Sabine Herting und Bernhard Robben liest sich ebenso locker, wie Rushdie spricht.

Im ersten Teil entwickelt Rushdie in mehreren Texten eine Poetik. Die Tradition des Realismus sei zu „endloser Wiederholung verurteilt“. Wer innovativ sein wolle, müsse sich „der Wahrheit mit Lügen annähern“. Er bevorzuge „diese andere Art von Literatur, die man die poetische Tradition nennen mag, welche realistischer ist als der Realismus, denn die korrespondiert mit dem Irrealismus der Welt.“

Er schreibt über Autoren, die er bewundert – Calvino, Grass, Bulgakow, Marquez – und Autoren mit denen er befreundet ist wie Harold Pinter: „Kein Schriftsteller in Not könnte sich einen besseren Verbündeten wünschen.“ Autoren, die er nicht mag, nennt er höflich nicht bei Namen. Auf der Giftliste ganz oben steht „gradlinige Fantasy-Fiction“. Fantasie habe die Aufgabe, schreibt er, „die Realität zu bereichern, und nicht ihr zu entrinnen“.

Für viele erst seit der Fatwa bekannt

Der Job des Schriftstellers sei es vielmehr, „mit beiden Händen so tief ins Leben zu greifen, wie er nur kann, bis hinauf zu den Ellenbogen, bis hoch zu den Achseln, um das wahre Leben herauszufischen“.

Bekannt wurde Salman Rushdie für viele Nicht-Leser erst durch die Fatwa. Seit 20 Jahren nun lebt er in New York, wo er sich laut Verlag völlig frei bewegen kann und keinen Personenschutz mehr hat. Dass er selbst mit Religion nichts am Hut hat, ist kein Geheimnis. „Man könnte sich wünschen, dass ein oder zwei der gegenwärtigen Auswüchse der Monotheismen bis zu dem Grade verrotten, dass das, was heute als Blasphemie betrachtet wird, sich zu einer vergnüglichen literarischen Diskussion wandelt“, schreibt er.

Dass die Fatwa die Aufmerksamkeit von seinen Büchern auf seine Person umlenkte, nervt ihn ebenso wie die Frage nach dem Autobiografischen. In früheren Jahrhunderten hätten die Menschen akzeptiert, dass Leben und Literatur verschiedene Dinge seien, „heute ist das nicht mehr der Fall“. Das Leben eines Autors sei höchstens „Rohmaterial“, da spreche „ein alternatives Ich“. Nach seiner Autobiografie „Joseph Anton“ habe er „einen großen Hunger nach Fiktion“ verspürt.

Mitteilsam wie Rushdie ist, erfährt man dann doch das eine oder andere private Detail: Dass eine Mini-Shakespeare-Büste der Türklopfer zu seinem Arbeitszimmer ist, dass seine Kinder „wahre Weihnachtsfundamentalisten“ sind und die Rushdies „ein lustiger Haufen“.

In den späteren Texten des Bandes geht es um „Trumpistan“, den Hindu-Nationalismus in Indien oder die Menschenrechte in China. „Wir leben in einer Zeit beispielloser Angriffe auf die Wahrheit“, schreibt Rushdie, an anderer Stelle gar: „Wir stehen inmitten der Trümmer der Wahrheit.“ Besonders besorgniserregend findet er die wachsende Zustimmung, Zensur könnte gerechtfertigt sein, sobald gewisse Gruppen sich angegriffen fühlen. Aber Kunst entstehe „nie in der sicheren Mitte, sondern immer an den Rändern“. (dpa)