Der neue Roman "Connemara" von Nicolas Mathieu zeigt eindringlich, wie unverschämt schön und wahnsinnig schmerzhaft das Leben sein kann.
Buch-BesprechungGroße Gefühle in Nicolas Mathieus neuem Roman „Connemara“
Hélène will immer schon weit weg und hoch hinaus. Raus aus der Provinz in den Vogesen und dem Dunstkreis der Eltern mit ihren „Geringverdiener-Weisheiten“. Also eine Wirtschaftsakademie in Lyon, ein stressiger Job in Paris, wo man sich mit der richtigen Sonnenbrille in der angesagten Bar als Mittelpunkt der Welt fühlt.
Dann kommt der Burn-out und die bittere Erkenntnis: „Vom Bac bis zum 40. Geburtstag war ihr Leben ein Schnellzug, der sie eines schönen Tages an einem Bahnsteig rauswarf, von dem nie die Rede gewesen war.“ Sie ist wieder zurück in der Gegend zwischen Nancy und Épinal, unglücklich verheiratet, Mutter zweier Töchter.
Doch eines Abends sieht sie zufällig den Schwarm ihrer Jugend, Christophe, den umschwärmten Eishockeycrack der Schule. Auch er nun um die vierzig, liebender Vater des kleinen Gabriel, aber kurz vor der Scheidung. Beide beginnen eine Affäre, die zum pulsierenden Glutkern von Nicolas Mathieus neuem Roman „Connemara“ wird.
Mathieu kennt das Milieu des Roman-Schauplatzes
Der Prix-Goncourt-Gewinner von 2018 stammt selbst aus der Gegend und siedelt Christophe im fiktiven Ort Cornécourt an. Während Hélène in Nancy für eine aufstrebende Consultingfirma schuftet („Wir verkaufen Expertise und Speichelleckerei“), ist er als Vertreter für Tierfutter fest in der Scholle verwurzelt. Außer im Bett passen sie nicht sonderlich gut zusammen.
Der 44-jährige Autor war schon in seinen früheren Romanen „Wie später ihre Kinder“ und „Rose Royal“ ein Meister der porentief authentischen Milieustudie. Diesmal misst er das Piranhabecken der Beratungsfirma mit ihrem Power-Point- und Open-Space-Geprotze, den falschen Karriereversprechen und kaltblütigen Intrigen zentimetergenau aus. Daneben Christophes rustikales Fluidum. Hier sind bierselige Abend mit den Kumpels unter dem Terrassen-Heizstrahler oder im anheimelnden Stammkneipenmief fast schon das höchste Glück. Elegant gleitet die Prosa durch die Zeiten, beschwört neben den Kindertagen der Protagonisten besonders die hinter frühreifer Arroganz getarnten Pubertätswirren. Schließlich die Lebensmitte als Sackgasse, aus der nun die Liebesflucht gelingen soll. Anfangs vergoldet die Lust selbst schäbigste Hotelzimmer, man kann einfach nicht voneinander lassen. Für Christophe wiederholt sich sogar die verlorene Jugend: „Diese Frau war von früher, wie das Eishockey, aus den Jahren, die zählten und denen er nachjagte.“
Autor besticht durch schonungslose Einfühlsamkeit
Doch so explizit der Erzähler die Sexszenen einfängt, so genau behält er die Konsequenzen im Blick. In Hélènes Firma fällt auf, dass die einstige Aufsteigerin nicht mehr vor Ehrgeiz brennt, während ihr Liebhaber fürs ersehnte Sport-Comeback allzu oft das Training schwänzt. Nicht zuletzt deshalb, weil es neben der Begierde immer auch die Skrupel gibt, nach dem Rausch die Ernüchterung. Dann denken beide an die von Krebs oder Demenz heimgesuchten Eltern – und an die Kinder, deren Geborgenheit auf der Kippe steht.
Fühlens, die Nicolas Mathieu hier mit schonungsloser Einfühlsamkeit einfängt. So wachsen die Zweifel an dieser Liebe, um die es doch unendlich schade wäre. Nur die großen Romane zeigen so eindringlich, wie unverschämt schön und wahnsinnig schmerzhaft das Leben sein kann.
Nicolas Mathieu: Connemara. Roman, aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen. Hanser Berlin, 432 S., 26 Euro.
Chanson „Les lacs du Connemara“
Michel Sardou veröffentlichte 1981 das Chanson „Les lacs du Connemara“, das im Buch mehrfach vorkommt und dem Roman den Namen gibt. Das üppig instrumentierte Lied beschwört eine archaisch-düstere irische Landschaft, die zu einer Hochzeitskulisse wird. Besonders die rasanten Tanzrhythmen haben das bekannte Chanson in Frankreich zu einem beliebten Partybegleiter gemacht, sodass es dort viel weniger exotisch als einheimisch wirkt.