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Verlust eines großen AutorsJürgen Becker stirbt im Alter von 92 Jahren

Lesezeit 5 Minuten
Der Schriftsteller Jürgen Becker posiert am 30.05.2014 in seinem Garten in Odenthal (Nordrhein-Westfalen). Becker wird mit dem Georg-Büchner-Preis 2014 ausgezeichnet. Der mit 50 000 Euro dotierte Preis gilt als wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland. Foto: Marius Becker/dpa ++ +++ dpa-Bildfunk +++

Der Schriftsteller Jürgen Becker ist gestorben.

Im Alter von 92 Jahren ist der Kölner Autor und Lyriker Jürgen Becker gestorben.

„Ruhe ist nicht angesagt; unentschieden, wie es weitergeht, und auch die Nachspielzeit hört einmal auf.“ Dieser Satz steht am Ende von Jürgen Beckers letztem, im Sommer dieses Jahres erschienenen Buch. Am Donnerstag ist der Kölner Autor im Alter von 92 Jahren nun gestorben. Er sei friedlich zu Hause eingeschlafen, sagt sein Sohn, der Fotograf Boris Becker, der Rundschau.

Geboren wird Jürgen Becker am 10. Juli 1932 in Köln, „der erste Riss in seinem Leben“ entsteht, als die Familie 1939 kriegsbedingt nach Thüringen zieht. Weitere Risse und Schnitte folgen: der Tod der Mutter, der Mord an der Stiefmutter, eine Scheidung, nach der er sich seinem Sohn gegenüber selbstkritisch sieht: „der Vater, der seinen Auftrag versäumt hat“.

Jürgen Becker: Seine Vita

Becker bricht das Germanistikstudium ab, beginnt zu schreiben. Ab 1960 ist er Teilnehmer der „Gruppe 47“, 1967 gewinnt er den Preis des Schriftstellertreffens. Ein Jahr später erhält er den Kölner Literaturpreis.

Doch ihn empört die Tatsache, dass die Polizei kurz zuvor eine Veranstaltung der Filminitiative XSCREEN im U-Bahnhof Neumarkt verhindert hatte. Es erscheine ihm als „Farce, wenn die Stadt Köln mit der einen Hand Kunstpreise verleiht und mit der anderen die Freiheit der Kunst abwürgt“.

So angenehm das nun ist, so gibt es doch auch Zeiten, in denen man fragt: Liest dich überhaupt noch jemand?
Jürgen Becker

Viele weitere Auszeichnungen folgen, der Höhepunkt dabei bleibt sicher 2014 der Büchner-Preis, auf den er gewohnt lakonisch reagiert und später sagt: „Von dem Tag an, da diese Nachricht an die Medien ging, war alles anders. Da war ich nicht mehr der Autor soundso, sondern der Büchner-Preisträger.“

Trotz all der Wertschätzung: Lange Jahre kann der Vielgelobte von seinen Büchern nicht leben und braucht Brotberufe: als Mitarbeiter des WDR, Rowohlt-Lektor, Leiter des Suhrkamp-Theaterverlags und Hörspielchef beim Deutschlandfunk. Oft fehlt die Muße für lange Texte, „aber es blieb in jedem Fall Zeit für ein Gedicht“. Und: „Nach dem Text bin ich immer ein anderer, und wenn es für drei Minuten ist.“

Texte nennt er Journalgedichte

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung attestiert ihm zur Büchner-Preisverleihung 2014 zu Recht, dass er „die Gattungsgrenzen von Lyrik und Prosa beharrlich neu vermessen und verschoben“ habe.

Journalgedichte nennt er viele seiner Texte. „Ich habe immer schon journalhaft geschrieben, kann nur schreiben, wenn ich etwas gesehen, erlebt, gerochen, gefühlt habe.“ Für fantasievoll ausgesponnene Plots fehle ihm das Talent.

Autobiografisches Schreiben

Aber diese Texte sind dann befeuert von Assoziationsgewittern. In „Rückkehr der Gewohnheiten“ (2022) – Becker begann den Zyklus, als Corona anfing – führen die „Meldungen von der Virusfront“ direkt in die Kindheit, als das Oberkommando der Wehrmacht im Radio ganz andere Fronten abschritt. In „Graugänse über Toronto“ (2017) ist „der Griff nach dem Feuerhaken, nach Kohlenschaufel und Beil, der Griff um Jahrzehnte zurück.“

In diesem Satz steckt die Essenz von Jürgen Beckers autobiografischem Schreiben: Es gibt keine pure Gegenwart, keinen isolierten Moment. Jeder Augenblick trägt unzählige andere in sich.

Köln und Kölner Bucht als Inspiration

Dabei bleibt die Kölner Bucht Resonanzraum seines Schreibens. In einer furiosen Adjektiv-Arie sieht er Köln als (in Auswahl) „grobe, grinsende, gleichgültige, mütterliche, empfindliche, schnapstrinkende, unvergessliche Stimmungs-, Heimweh-, Wasser- und Schlechtwetterstadt, die in ihrer Widersprüchlichkeit genügend Reize für einen Künstler hat“.

Und Becker sagt zu dem Band „Lokalseiten“, in dem sich dieser Text befindet: „Es ist für meine Bücher wichtig, dass sie gerade hier entstanden sind.“ In seinen Gedichten und Journalromanen ist Becker stets Landvermesser und Archäologe zugleich. Ihn faszinieren die Schichten des Ortes, die Sedimente, in die Zeitgeschichte und persönliches Schicksal eingeschrieben sind.

Gegen Literatur als politisches Sprachrohr

Literatur als kritisches Sprachrohr aber lehnt er ab: „Ich schreibe nicht, um die Wirklichkeit zu verändern, ich will sie erst einmal begreifen.“ Und: „Politisch operative Literatur konnte ich nicht liefern und sah darin auch keine Zukunft.“

So bleiben politische Einwürfe selten, auch wenn Becker 2017 in „Graugänse über Toronto“ eine sarkastische Fußnote zum Flüchtlingselend setzt: „Das Mittelmeer können wir buchen, die Küstenwache kümmert sich um die Leichen.“

Zwischen Kindheit und Sterbebett so viele Jahrzehnte, dass es dunkler wäre am Himmel, knipste man für jeden Augenblick, der vergeht, einen Stern aus.
Jürgen Becker

„Das Älterwerden halten wir nicht auf; wir müssen es nur bestehen, jeden Tag aufs neue“, schreibt er in „Die Rückkehr der Gewohnheiten“. Für ihn bedeutet das, es allein zu bestehen. Im Jahr zuvor war seine Frau Rango Bohne gestorben, die beiden waren seit 1965 miteinander verheiratet, die bildende Künstlerin und der Autor arbeiten oft zusammen, vielfach inspirieren etwa ihre Collagen sein Schreiben.

„Ich kann nur sagen, dass ich versuche, mit der Leere zurande zu kommen, die jeden Morgen aufs Neue beginnt“, formuliert Becker in „Nachspielzeit“, aus den Zeilen sprechen Wehmut und Einsamkeit. Zuletzt hatte Jürgen Becker aus gesundheitlichen Gründen Auftritte im Kölner Literaturhaus absagen müssen.

Nachlass mit vielen Texten

In den letzten zwei Monaten erst sei er schließlich zum Pflegefall geworden. „Ich bin dann zu ihm gezogen und habe die Pflege übernommen“, erzählt Boris Becker. Auch wenn das nicht immer einfach gewesen sei, „diese Zeit mit ihm möchte ich nicht missen“. Und: „Er war nie allein.“

„Warte nicht länger, wenn du noch was zu vermelden hast“, hieß es im letzten Buch. Und daran habe sich der Vater gehalten: „Er hat nicht aufgehört zu arbeiten“, sei bis zum Schluss klar gewesen. „Noch an seinem Todestag hat er mich darum gebeten, ihm ‚Die Zeit’ zu besorgen.“ Und so könnte auf die „Nachspielzeit“ noch etwas folgen. „Es gibt noch einen Ordner mit genügend Material für ein weiteres Buch“.