Der Auftritt vor 41.000 Menschen im RheinEnergieStadion stellt den bisherigen Höhepunkt der Kölner Band da.
Heimspiel und FeuerprobeAnnenMayKantereit begeistern im RheinEnergieStadion mit neuem Song
Erinnert sich jemand an Rosenstolz? Eins ihrer schönsten Stücke war „Der Moment“. Es handelt von der Zeit, die vergangen ist, von der Angst und der Einsamkeit, davon, dass die Welt ein wenig reicher geworden ist. Trotz des Gefühls, geteilt zu sein. Henning May, den Sänger von AnnenMayKantereit, packt der Moment um 21.48 Uhr. Am Samstag, im mit 41 000 Menschen ausverkauften RheinEnergieStadion.
Mit verschwitzten Locken und bebendem Brustkorb steht er da, ein 31-Jähriger, der noch immer wie ein Knabe wirkt. Sein Gesicht zeigt eine Mischung aus Staunen und Unglauben, aus Erschauern und Dankbarkeit, unbändiger Freude und grenzenlosem Glück. „Ich glaube, es gibt in jedem Leben Momente, die sind zu groß, um sie festzuhalten“, sagt er, „die sind zu groß, um sie einzufangen – und das ist für mich heute so ein Moment.“ Und dann tut er etwas ganz und gar Unübliches. Er singt ein Stück, das er nie zuvor gesungen hat und leistet einen Eid: „Ich verspreche euch, dass ich dieses Lied nur einmal spielen werde. Heute. Hier. Für euch.“
AnnenMayKantereit spielen Konzert im RheinEnergieStadion
Es handelt von einem Schmetterling, der tut, was Schmetterlinge so tun: „Der Schmetterling fliegt weiter und vorbei.“ Um sich im Subtext als Metapher für die Flüchtigkeit dessen anzubieten, was schon Goethes Faust obskur erschien: ein Glücksmoment, der ewig dauern soll.
May und seinen Kollegen Christopher Annen (Gitarre) und Severin Kantereit (Schlagzeug) würde man das gönnen. Drei Gymnasiasten aus Köln, die sich über Straßen und Plätze bis in Clubs und auf überregionale Festivals spielten. Ohne Casting-Chemie und Plattenfirmen-Pampers, nur mit ihren eigenen Songs, ihrer handgemachten Musik und der Stimme von Henning May, die auch jetzt noch, Anfang 30, so klingt, als sänge da jemand, der sein Vater sein könnte.
Köln ist Feuerprobe und Heimspiel für die Band
Ihr Debüt-Album ging 2016 durch die Decke, aus Clubs wurden Hallen, mit dem Doppel-Gig Dezember 2022 in der Lanxess Arena schien der Zenit erreicht. Und jetzt, als Topping fürs Trio, das Kölner Stadion. Größer geht nicht.
Selbst dann nicht, wenn man, so wie AMK, seit 5 Wochen Arenen, Stadien und Festivalbühnen in Deutschland, der Schweiz und in Österreich füllt. Köln ist Feuerprobe und Heimspiel zugleich. Beides wird mit Bravour bewältigt.
Hit Pocahontas wieder auf der Setliste
Wer eins der Konzerte Ende letzten Jahres in der Lanxess Arena erlebt hat, kommt nicht umhin, Parallelen festzustellen. Mit fast zwei Stunden bleibt die Spieldauer gleich, auch die Setliste ist fast identisch. „Weiße Wand“, das „Orangenlied“ oder der „Erdbeerkuchen“ sind gestrichen, wobei nur „Nicht nichts“ so richtig fehlt. Und mit „Pocahontas“ dafür etwas hinzugefügt wird, was im Dezember schmerzlich vermisst wurde: eine der veritablen Mitsing-Hymnen von AMK.
Wieder hochkarätig dabei: Sophie Chassée am Bass, das Streich-Quartett und die vierfach besetzte Blech-Fraktion. Mehr Fülle, mehr Gefühl. Auch der alte Tisch aus dem Proberaum kommt erneut zu Bühnen-Ehren. Statt drei Zugaben gibt es fünf, dazwischen Freikölsch vom Fass.
Und um 21.48 Uhr der Moment. Den, in dem sich alles verdichtet. Die Zeit, die vergangen ist. Die Angst, die Einsamkeit, das Gefühl, dass die Welt ein wenig reicher geworden ist. Trotz des Empfindens, zweigeteilt zu sein. Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Der Applaus für AnnenMayKantereit in Köln klingt ähnlich. Sie haben ihn sich verdient.