An ihm scheiden sich die Geister: Ist er der Erneuerer des Musicals? Oder hat er ein ganzes Genre auf dem Gewissen? So oder so: Auf das Konto von Andrew Lloyd Webber gehen unzählige Erfolge.
Andrew Lloyd Webber wird 75Hat er das Musical auf dem Gewissen?

Andrew Lloyd Webber und die berühmte Maske, hinter der sich das „Phantom der Oper“ verbirgt.
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Was man Sir Andrew sicher nicht vorwerfen kann: Seine musikalische Bandbreite ist immens. Sie reicht von Vaudeville und Revue in „Cats“ (1981) über den überbordenden Bombast-Pop des „Phantoms der Oper“ (1986) bis hin zu Rock in „Jesus Christ Superstar“ (1970).
Deep Purple-Sänger als Jesus
Zusammen mit Tim Rice schuf Lloyd Webber 1970 diese „Rock-Oper“, die, ohne Dialoge auskommend, von den letzten Tagen im Leben von Jesus erzählt. Bevor das Stück am Broadway uraufgeführt wurde, entstand eine Studioaufnahme, auf der Deep Purple-Sänger Ian Gillan die Hauptrolle verkörperte.
Der Erfolg der Schallplatte und die anschließenden Bühnen- und Filmfassungen von „Jesus Christ Superstar“ bildeten das Fundament von Lloyd Webbers Karriere. Und „I don’t know how to love him“, das Liebeslied der Maria Magdalena, war sein erstes Lied, das von unzähligen Sängerinnen gecovert wurde, darunter Shirley Bassey, Katja Ebstein oder Sinéad O’Connor. In ihrer Heimat nahmen vor ihrer ABBA-Karriere sowohl Anni-Frid als auch Agnetha schwedische Versionen auf – Agnetha hatte Magdalena sogar in einer Aufführung gespielt.
Über die Jahre schaffte Lloyd Webber es immer wieder, für seine Shows das eine Lied, manchmal mehrere, zu kreieren, das die Zuschauer am Ende des Abends summend mit nach Hause nehmen können – wie „Memory“ („Cats“), „All I ask of you“ („Phantom“), „Any dream will do“ („Joseph And The Technicolor Dreamcoat“, 1969/1991) oder die bizarre Klage, dass Argentinien doch bitte nicht um die Sängerin weinen möge: „Don’t cry for me, Argentina“.
Denn der nächste große Wurf des Duos Rice/Lloyd Webber widmete der Lebens- und Leidensgeschichte der argentinischen Landesmutter Eva Peron: „Evita“ (1976/1978). Während die beiden dafür den ersten Olivier Award und den ersten Tony für das Beste Musical erhielten, starteten Elaine Paige in London und Patti Lupone ein Jahr später in New York als Evita ihre jeweiligen Karrieren – bis heute gehören die zwei zum Musical-Adel im West-End und am Broadway – auch wenn Patti Lupone heute aus verletztem Stolz kein gutes Haar mehr an ihm lässt.
Nach wie vor gut befreundet ist er mit Ehefrau Nummer zwei, Sarah Brightman, die dem „Phantom der Oper“ ihre lange Karriere zu verdanken hat, denn die Christine schrieb der Komponist ihr auf den Sopran.
Während sowohl für „Evita“ als auch „JCS“ gilt, dass sie musikalisch gut gealtert sind, kann das man von „Cats“ nicht sagen. Klar, die große Ballade des Abends, „Memory“ hat zeitlose Qualität. Doch bei der Vertonung der Gedichte aus T.S. Elliots „Old Possum's Book of Practical Cats“ wurde über Gebühr der Synthesizer zum Einsatz gebracht.
Doch die putzigen tanzenden Kätzchen und Kater sind so familienfreundlich und touristentauglich, dass sie zu einem globalen Phänomen wurden – unter den Argusaugen ihres Schöpfers und seiner „Really Useful Group“. Mit „Cats“ setzte sich der Trend durch – und mit „Phantom“ später fort –, dass Musicals dieser Dimension nicht nur überall auf der Welt gespielt wurden, sondern auch überall auf der Welt gleich aussahen.
Diese Form der streng kontrollierten Lizenzvergabe ist bis heute gang und gäbe, achtet man nicht auf die Sprache, man vergisst im Theater, ob man in Los Angeles, Stuttgart oder Wien sitzt. Was aber zu einer gewissen Beliebigkeit führt.
Natürlich schuf Lloyd Webber Rollen wie die der Norma Desmond in „Sunset Boulevard“ (1993), der Patti Lupone, Glenn Close oder Helen Schneider in Deutschland ihren eigenen Stempel aufdrückten. Und selbstredend stach Tenor Peter Hofmann als Hamburger „Phantom der Oper“ hervor. Aber im Großen und Ganzen ist es fast egal, wer hinter der berühmten halben Gesichtsmaske steckt oder wer die blonde, streng nach hinten gekämmte Evita-Perücke trägt.
Schwächelndes Spätwerk
Während die berühmten Musicals laufen und laufen – im April endet „Phantom“ am Broadway nach 25 Jahren und mehr als 13 000 Vorstellungen – , landet Sir Andrew seit gut 20 Jahren mit seinen Neu-Kreationen nur noch solide Theaterhits. Shows wie „The Woman in White“ (2004), die „Phantom“-Fortsetzung „Love Never Dies“ (2010) oder zuletzt „Bad Cinderella“ (2021) laufen in den jeweiligen Häusern noch ganz ordentlich.
Darüber hinaus hinterlassen sie aber keinen Eindruck mehr, von Hits eines Kalibers von „Take that look off your face“ (aus „Tell Me On A Sunday“), mit dem Marti Webb 1979 in den Top Ten vieler europäischer Länder landete, ganz zu schweigen.
Andererseits: 75 ist für einen Musicalkomponisten ja auch noch kein Alter!