Die japanische Autorin Mieko Kawakami beleuchtet die Gesellschaft ihres Heimatlandes in ihrem Roman „All die Liebenden der Nacht“.
Neuer Roman von Mieko KawakamiWie es sich in Japan anfühlt, eine Frau zu sein
Sicherlich wird jede Leserin Mieko Kawakamis neuen Roman auf ihre eigene Weise interpretieren. Eines wird „All die Liebenden der Nacht“ aber in keinem Fall auslösen: Neid auf die Lebensumstände japanischer Frauen.
Unterwegs mit Reiswein
So fortschrittlich der asiatische Inselstaat auf dem Gebiet der technischen Innovationen seit vielen Jahren auch sein mag — in Sachen Gleichberechtigung belegt er unter den Industrienationen einen der hinteren Plätze. Formal haben Frauen sicherlich dieselben Bildungschancen wie Männer. Nach Studium und Ausbildung wird aber von ihnen erwartet, zügig zu heiraten, sich fortan um Haushalt und Kinder zu kümmern und die Rolle des Ernährers dem Ehemann zu überlassen.
Was aber, wenn eine Frau sich partout nicht ins übliche Schema einfügt? So wie Fuyuko, die Protagonistin des Romans. Die 34-Jährige ist alleinstehend und verdient ihr Geld als Korrektorin für einen Verlag. Nachdem sie bei ihrem früheren Arbeitgeber aufgrund ihres einzelgängerischen Wesens von den Kollegen gemobbt wurde, erledigt sie den Job mittlerweile von ihrem Zuhause aus, das sie, wenn überhaupt, nur noch nachts oder in Begleitung einer Thermoskanne Reiswein verlässt.
Ihre sozialen Kontakte lassen sich an einer Hand abzählen. Bis der Zufall sie eines Tages doch dazu bringt, ihre Komfortzone zu verlassen, was ihr prompt eine Begegnung beschert, die ihr Leben verändern könnte.
Oberflächlich betrachtet, ist Kawakamis Sprache — für japanische Romane nicht untypisch — präzise, kühl und analytisch. Daran ändert auch die Ich-Perspektive nichts, aus der Fuyuko ihre Geschichte erzählt. So schildert sie etwa ihren Weg in die Alkoholabhängigkeit mit nüchterner Distanz: „Mir nur einer langsam geleerten Dose Bier, einem Wasserglas Sake gelang es mir, nicht mehr ich selbst zu sein.“
Grenzen der Akzeptanz
Gleichzeitig spürt man aber gerade in diesen Passagen ihre Einsamkeit und Verletzlichkeit. Frauen in ihren Dreißigern – was, vor allem bei Unverheirateten, in Japan schon nicht mehr als jung gilt –, die nicht ins System passen: ein Stoff, an dem sich japanische Schriftstellerinnen in den letzten Jahren zunehmend abarbeiten.
So beleuchtete die 1976 geborene Kawakami das Phänomen bereits in ihrem 2020 erschienenen Bestseller „Brüste und Eier“ und legte den Fokus dabei insbesondere auf die Themen soziale Herkunft und Akzeptanz des eigenen Körpers. Doch auch Bücher wie Sayaka Muratas „Die Ladenhüterin“ oder große Teile des Werks von Banana Yoshimoto lassen den Schluss zu, dass sich zwischen dem traditionellen äußeren Bild und dem tatsächlichen Selbstverständnis vieler Japanerinnen zunehmend Abgründe auftun.
So gibt es in „All die Liebenden der Nacht“ für Fuyuko kein Happy End im klassischen Sinne. Von außen betrachtet, ist ihre Situation immer noch – oder wieder – dieselbe wie zu Beginn. Und doch hat sich ein bisschen für sie verändert – und sei es nur die eigene Sicht auf das Leben.
Mieko Kawakami: All die Liebenden der Nacht, Roman, Übersetzung: Katja Busson, 260 Seiten, 24 Euro.