AboAbonnieren

Kurt Marx zu Gast in Kölner GymnasiumWie ein 99-jähriger Holocaust-Überlebender zurück in seine Kindheit blickt

Lesezeit 4 Minuten
Kurt Marx, entkam als Kind dem Holocaust. 

Kurt Marx, Zeitzeuge, der mit den Kindertransporten der Jawne nach England fliehen konnte, berichtete von seinen Erfahrungen.

Als Zeitzeuge und Holocaust-Überlebender besuchte Kurt Marx ein Kölner Gymnasium, erzählte von der NS-Zeit und brachte Schülern Geschichte aus erster Hand nahe.

Der Mann, der in grauer Strickjacke und brauner Kordhose, leicht auf seinen Stock aufgestützt, in der Turnhalle des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums (FWG) sitzt, hat freundliche Augen und einen weißen Vollbart. Fünft- und Sechstklässler sitzen im Halbkreis um ihn herum und schauen ihn erwartungsvoll an. Wer es nicht besser weiß, könnte meinen, dass hier eine vorweihnachtliche Erzählstunde auf dem Programm steht. Und so beginnt es auch.

Während auf einer Leinwand hinter ihm wechselnde Schwarz-Weiß-Fotos zu sehen sind, erzählt Kurt Marx, Jahrgang 1925, der sich auf Einladung von Oberbürgermeisterin Henriette Reker vor wenigen Tagen ins Gästebuch seiner Heimatstadt eingetragen hat, von einer fröhlichen, behüteten Kindheit in Sülz und Klettenberg: „Es war eine wunderbare Zeit.“ Eines der Bilder zeigt vier Jungs, verkleidet als Cowboy und Indianer, die in die Kamera lachen. „Der Linke, das war ich. Und die drei anderen – zu der Zeit waren wir noch Freunde“, sagt Marx nachdenklich: „Anfangs war alles normal.“

Behutsam moderieren Adrian Stellmacher vom Lern- und Gedenkort Jawne und Sara Weyers, die am FWG Deutsch und Geschichte unterrichtet, durch den Vortrag. „Wer von euch hat denn die Grundschule den Manderscheider Platz besucht?“, fragt Stellmacher. Während einige Hände in die Höhe gehen, erfahren die Kinder: „Dort war auch Kurt Marx.“ So wird eine Brücke geschlagen zwischen Kölner Kindheiten vor 90 Jahren und heute, bevor es darum geht, warum Marx eigentlich hier spricht: den Holocaust und die Kindertransporte nach England, mit denen auch er als einer von wenigen gerettet wurde.

„Heute ist keine Schule“

Aus Kindersicht beschreibt Marx, wie er am Morgen nach der Reichspogromnacht zum jüdischen Gymnasium in der St.-Apern-Straße radelte: „An der Ecke Wittgensteinstraße war das Fenster eines Spielzeuggeschäftes zerschlagen. Ich habe mir dabei nicht viel gedacht. Als ich zur Schule kam, brannte daneben die Synagoge und ein Lehrer sagte: ‚Heute ist keine Schule.‘ Naja, dann wollte ich zu meinem Onkel, der hatte eine Metzgerei und meine Tante gab mir dort immer ein großes Stück Wurst. Aber als ich dort ankam, lag das Geschäft in Trümmern. Da erst habe ich gemerkt: Etwas stimmte nicht.“

Die Gewalttaten der Novemberpogrome gaben für Erich Klibansky, der damals das jüdische Gymnasium leitete, den Ausschlag, die Eltern davon zu überzeugen, dass jüdische Kinder in England sicherer wären. Während die Kinder dort mit Hilfe fremder Menschen Fuß fassten, gelang es nur wenigen Eltern, ebenfalls zu fliehen. Marx‘ Eltern wurden, ebenso wie Klibansky mit seiner Familie, 1942 in einem Vernichtungslager in Minsk ermordet. Mit Blick auf die Hilfsbereitschaft, die er selbst erlebt hat, sagt der 99-Jährige dennoch: „Es ist eigentlich wunderbar, wie gut Menschen sein können. Die meisten Leute sind sehr anständige Menschen.“

Später wiederholt er seine Schilderungen in der Aula vor den älteren Jahrgangsstufen, wo zunächst sein Sohn Michael über seine Mutter, eine Auschwitz-Überlebende, und über seine eigene Kindheit gesprochen hatte. Bis zum Tod der Mutter habe er fast nichts über die Familiengeschichte erfahren: „Die Überlebenden tauschen sich untereinander aus, aber sie erzählen ihren Kindern nichts, weil sie sie schützen wollen.“

Unmittelbares Einfühlen ermöglicht

Einen Zeitzeugen sprechen zu hören, sei etwas ganz anderes als normaler Unterricht, sagen die Zehntklässlerinnen Malina Szalay, Suzan Roth und Jara Schinkel. „Er war dabei, er hat es alles selbst mitbekommen. Es gibt nicht mehr viel, die so sprechen können“, sagt Suzan. „Wenn so jemand spricht, kann man sich ganz anders in die Situation hineinversetzen“, findet Jara. Malina, die über die Synagogengemeinde an einem Filmprojekt mit Zeitzeugen mitwirkt, findet bemerkenswert, wie heiter Kurt Marx alles schildern könne: „Ich habe auch erlebt, dass eine Zeitzeugin im Gespräch weinen musste. Am Ende mussten alle im Raum weinen.“ Genau um diese Unmittelbarkeit gehe es bei der Veranstaltung, sagt Lehrerin Sara Weyers: „Viele Möglichkeiten, einen Zeitzeugen zu erleben, wird es nicht mehr geben. Wenn wir in den Köpfen verankert bekommen: ‚Ich habe mal einen gesehen‘, dann ist schon viel geschafft.“