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Neues Buch „Ich tauche auf“Tocotronic-Sänger schreibt poetisches Tagebuch der Pandemie

Lesezeit 3 Minuten
Dirk von Lowtzow, Sänger der Band Tocotronic, sitzt auf einem blauen Sofa.

Nie um einen Hoffnungsschimmer verlegen: Dirk von Lowtzow ist seit drei Jahrzehnten Sänger der Band Tocotronic und Liebling der Feuilletons.

Als „porös wie ein Schwamm“ beschreibt sich der Sänger, als er ein halbes Jahr lang seine Gitarre nicht angefasst hatte.

Er wolle von diesem traurigen Jahr erzählen, als wäre es die schönste Zeit seines Lebens, schreibt Dirk von Lowtzow in seinem letzten Tagebucheintrag. Er stammt aus dem März 2021. Und das Glück des Zauderns und des Aufschiebens, das ist auf den vorangegangenen rund 225 Seiten nicht ganz leicht zu entdecken.

Aber vielleicht gehört auch das zu dieser pandemischen Ausnahmesituation, dass das verordnete Verweilen und Innehalten gänzlich unbekannte Gefühlslagen freigelegt hat – und manche, zumindest im Nachhinein betrachtet, ein Glück waren. Der Sänger und Kopf der Band Tocotronic ist vor vier Jahren mit „Aus dem Dachsbau“ erstmals als Autor auffällig geworden. Es war eine Enzyklopädie seines Rockmusikerdseins, mit dem er das ein oder andere Rätsel seines Schaffens entschlüsselte (und das ein oder andere neue hinzugefügt hat).

„Es ist schön abzutauchen – wenn man weiß, dass man wieder auftauchen darf.“
Dirk von Lowtzow, Tocotronic-Sänger

Nun vermisst DvL mit „Ich tauche auf“ die so quälend gedehnte Corona-Zeit zwischen Erstimpfung und Lockdown, eine Zeit, die allen Musikern im wahrsten Wortsinn den Stecker gezogen hat. Der Musiker sinniert, wie schnell der Selbstoptimierungswahn sich zeitgemäße Formeln schnappt wie Achtsamkeit und Entschleunigung. Doch schiebt er jeder Verklärung einen Riegel vor: Jede harmonische Erzählung greife zu kurz: „Es ist schön abzutauchen – wenn man weiß, dass man wieder auftauchen darf.“

Mit Unbehagen kehrt der Leser zurück in diese beklemmenden Monate, die aus heutiger Sicht einem anderen Zeitalter entsprungen scheinen. Dass man dem Musiker bei seinen Tagebucheinträgen dennoch gerne folgt, liegt zum einen an seiner Fähigkeit zum ironischen Understatement. Etwa, wenn er beschreibt, wie die ersten Takte des Songs „Hoffnung“ am Maschendrahtzaun eines Schweinsgeheges in Brandenburg vorträgt – ohne damit viel Eindruck zu erzeugen („Perlen vor die Säue“).

Tocotronic Sänger schildert seinen Corona-Alltag

„Aus jedem Ton spricht eine Hoffnung auf einen Neuanfang“, heißt es in dem Lied, das etwas unfreiwillig zu einer Hymne gegen die Vereinzelung wurde. Insgesamt ist von Lowtzows melancholische Flucht in die Kunst und Selbstbesinnungen, nun, ja, sehr unterhaltsam. Er besichtigt das alte Tonstudio, grübelt immer wieder, wann das Leben und die Musik endlich weitergehen, gibt sich seinem Putzfimmel hin, findet dabei Erkenntnis zwischen den Ritzen und versucht seiner Dämonen Herr zu werden.

Seine Liebe zu Kuscheltieren lebt der 52-Jährige offen aus. Tocotronic-Fans kennen den ein oder anderen flauschigen Begleiter von den Live-Auftritten. In der literarischen Verarbeitung schickt er Bärchen („B.“) in dunkle Gänge und auf moosige Wände. Und sogar nach Sylt, „den scheußlichsten Ort der Welt“. Im Zentrum stehen „die Abgründe der Ereignislosigkeit“. Vielleicht brauchte es eine solche Kartierung des Stillstandes, um wirklich zu begreifen, was die Pandemie mit Künstlern gemacht hat.

„Die Agonie ist überall spürbar. Ich bin porös wie ein Schwamm.“
Dirk von Lowtzow, Tocotronic-Sänger

Dirk von Lowtzow schreibt über die Nutzlosigkeit kreativer Anstrengungen, über Versagensängste vor dem Auftritt und dem schwindenden Glauben, jemals wieder auf die Bühne zurückzukehren. Ein halbes Jahr fasst er seine Gitarre nicht an. Unvorstellbar. „Die Agonie ist überall spürbar. Ich bin porös wie ein Schwamm.“ Von peinigenden Selbstzweifeln Die Angreifbarkeit nicht nur des Künstlers, sondern auch des Menschen ist auf jeder Seite spürbar. Gerade diese Offenheit macht das schmale Buch dann doch zu einem besonderen. „Nach anfänglicher Ablehnung bin ich in die Phase der akuten Verliebtheit übergegangen“, schreibt er über die Albumaufnahmen.

Und grundsätzlicher: „Von peinigenden Selbstzweifeln bis zur massiven Selbstüberschätzung ist es nur ein kurzer Weg.“ Die Corona-Tristesse wird von Lichtblicken erhellt etwa angesichts des nahenden Videodrehs zum gleichnamigen Song „Ich tauche auf“ mit Künstlerin Soap&Skin. Der Song besingt die Liebe und die Unwissenheit, das Video taucht all das in umspülte, sphärische Bilder. Von Lowtzow singt: „Ich tauche aus dem Wasser auf wie aus einem tiefen Schlund.“


Dirk von Lowtzow: Ich tauche auf, Kiepenhauer & Witsch, 228 Seiten, 22 Euro.