AboAbonnieren

SchockraumSo wird in den Kliniken in Köln für den Ernstfall geprobt

Lesezeit 5 Minuten

Ist der Patient stabil? Im Skills Lab des Krankenhauses in Merheim wird für den Ernstfall im Schockraum geübt.

Ärztinnen und Ärzte im Klinikum Merheim trainieren für Notfälle im Schockraum mit einer lebensechten Puppe.

Das Piepen des Überwachungsmonitors wird höher. Der Patient auf der Liege war gerade noch „ABC stabil“, berichtet die Notärztin. Doch nun atmet er flacher, der Blutdruck sinkt. Der 59-Jährige ist aus drei Metern Höhe von einer Leiter gestürzt, mit dem Bauch auf eine Stuhllehne.

Jetzt muss es schnell gehen und alles passiert gleichzeitig: Die Unfallchirurgin macht einen Ultraschall des Brustkorbs, die Pflegekraft nimmt Blut ab, die Anästhesistin kümmert sich um die Beatmung. „Wir machen eine Thoraxdrainage“, entscheidet die Chirurgin und öffnet seitlich den Brustkorb. Die Sauerstoffsättigung steigt, aber es ist noch Flüssigkeit im Bauchraum. Der Mann muss operiert werden. Oberärztin Dr. Dorothee Keipke sagt durch einen Lautsprecher: „Danke, das war super gelöst. Der Patient geht jetzt in den OP.“

Ärztinnen und Ärzte der städtischen Kliniken trainieren mit Nachbildungen des menschlichen Körpers

Der Patient, der von der Leiter gefallen ist, hat keinen echten Kreislauf, auch wenn sich sein Brustkorb hebt und senkt. Die elektrische Trainingspuppe im „Skills Lab“ der Anästhesie im Krankenhaus in Merheim wird vom Nebenraum per Funk gesteuert.

„Full-Scale-Simulatoren“ sind lebensgroße Nachbildungen des menschlichen Körpers. Sie reagieren auf die Untersuchung der Pupillen, können intubiert werden, bekommen Kammerflimmern, verdrehen die Augen oder „bluten“ bei einer Amputation. „Wir können hier so ziemlich jedes Szenario trainieren“, erklärt Dr. Jérôme Defosse, leitender Oberarzt der Anästhesiologie. „Mehrere Kameras in den Räumen ermöglichen, dass die Übungen anschließend nachbesprochen werden können.“

Professor Dr. Frank Wappler (l.) und Dr. Jérôme Defosse.

Alle Ärztinnen und Ärzte der städtischen Kliniken sollen mindestens einmal im Jahr so ein Training durchlaufen, nicht nur die in der Ausbildung. Auch das Pflegepersonal ist dabei. Geübt werden auch seltene Notfälle, auf die man in der echten Notaufnahme, die nur ein paar Hundert Meter vom „Skills Lab“ entfernt ist, trotzdem vorbereitet sein möchte.

Drei Schockräume gibt es dort, sie sind das Herz der Notaufnahme. In den meisten Fällen geht es hier ums Überleben. Rund 1000 Menschen werden in den Schockräumen in Merheim, einem der größten überregionalen Traumazentren, pro Jahr behandelt, eingeliefert mit dem Rettungswagen oder Hubschrauber.

Nichts, was wir im Schockraum tun, passiert zufällig. Es gibt ein festes Protokoll.
Prf. Dr. Bertil Bouillon, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie

Die Arbeit im Schockraum selbst findet in interdisziplinären Teams statt: Zwölf bis 15 Fachkräfte aus Anästhesie, Chirurgie, Neurologie, Radiologie und Pflege kommen zusammen. „Nichts, was wir im Schockraum tun, passiert zufällig. Es gibt ein festes Protokoll“, erklärt Professor Dr. Bertil Bouillon, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie.

Seit mehr als 20 Jahren wird im Schockraum und im Rettungsdienst eine gemeinsame Sprache gesprochen: Die Buchstaben A,B,C,D und E stehen für eine Strategie zur Untersuchung und Versorgung kritisch kranker oder verletzter Patienten. A steht etwa für die Atmung, C für das Kreislaufsystem. Gleichzeitig gilt der Grundsatz: „Treat first what kills first“, also zuerst das behandeln, was zuerst zum Tod führt.

Oberärztin Dr. Dorothee Keipke steuert die Szenarien im Übungsraum.

Wie eine einstudierte Choreografie klingt es, wenn im Schockraum nacheinander A bis E abgefragt werden. Die Kommunikation findet in beide Richtungen statt, das Gesagte wird mit einem kurzen „Gehört!“ des anderen bestätigt. Außerdem gibt es kleine Zwischenstopps, die „Time outs“, in denen in zehn Sekunden alle Anwesenden noch mal auf denselben Wissensstand gebracht werden. Eine wertvolle Methode, damit keine Fehler passieren, erklärt Bouillon.

„Skills Lab“ ermöglicht Übungen unter äußerst realistischen Bedingungen

Das „Skills Lab“ in den ehemaligen Räumlichkeiten der Bronchoskopie macht es möglich, den Ernstfall unter sehr realistischen Bedingungen, aber nicht am echten Patienten zu üben. „Bei der Arbeit mit der Puppe vergessen die meisten aber sehr schnell, dass es sich nicht um einen echten Menschen handelt“, sagt Oberärztin Dorothee Keipke in dem Steuerraum mit verspiegelten Scheiben, aus dem man in die beiden Übungsräume hineinsehen kann. „Manchmal sehen wir sogar Tränen bei den Teilnehmenden, weil es so echt ist. Viele sind sehr dankbar, dass sie Notfälle auch in dieser sicheren Umgebung erleben können.“

Professor Dr. Bertil Bouillon, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie

Die Trainingsräume sind eingerichtet wie die Schockräume in der Notaufnahme, es gibt die gleichen Geräte, die Medikamentenschubladen sind gleich angeordnet. Üben kann man mit einer erwachsenen Puppe und einer Kinderpuppe, die man weiblich oder männlich umbauen kann, zusätzlich gibt es ein Exemplar, das Opfer einer Explosion geworden ist. Glassplitter stecken in seiner Haut. Pro Puppe belaufen sich die Kosten der Anschaffung auf bis zu 120.000 Euro, gestemmt wurden diese aus Eigenmitteln der Klinik sowie Spenden. Die männliche Trainingspuppe wird von den Ärztinnen und Ärzten liebevoll „Arno-nym“ genannt.

KI wird im Schockraum eingesetzt

Noch mehr Hightech steckt in einem anderen Projekt im „Skills Lab“: Mit Hilfe einer intelligenten Spracherkennung kann die Künstliche Intelligenz (KI) bei Entscheidungen im Schockraum unterstützen. „Im Schockraum ist die kognitive Last, die man bewältigen muss, um zu einer guten Entscheidung zu kommen, sehr hoch“, erklärt Unfallchirurg und Oberarzt Dr. Thorsten Tjardes. Die KI nimmt die Informationen über das ABCDE-Schema und die angewandten Maßnahmen auf und verschriftlicht es übersichtlich auf einem Monitor.

Darüber hinaus wurde das Programm so mit Informationen gefüttert, dass es auch Behandlungsvorschläge macht. „Im Stress kann etwas vergessen werden, die KI unterstützt also die Denkprozesse der Akteure“, so Tjardes.

Oberarzt Dr. Thorsten Tjardes erklärt, welche Aufgaben die KI im Schockraum erfüllt.

Im Hinblick auf die Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land und eine damit verbundene erhöhte Anschlagsgefahr werden auch in Merheim Notfallpläne gemacht. „Wir können im Ernstfall jeden Raum zum Schockraum machen“, sagt Professor Dr. Frank Wappler, Direktor der Klinik für Anästhesiologie. In den kommenden Wochen werden weitere Pläne zusammen mit der Kölner Feuerwehr entstehen, die die Versorgung auch bei Katastrophen gewährleisten sollen. Im „Skills Lab“ werden weitere Szenarien geprobt, unter anderem ein Stromausfall in der Klinik. Dann muss auch Professor Wappler ran: Für den Chef habe man das Szenario „Zombie“ reserviert. Ausprobiert haben sie das noch nicht.