Der Pisa-Schock ist noch frisch: Im Lesen schnitten Schülerinnen und Schüler so schlecht ab wie nie zuvor. Die Kölner Heinrich-Böll-Gesamtschule steuert gegen.
Mit Sprache jonglierenWie sich die Kölner Heinrich-Böll-Gesamtschule um gutes Deutsch bemüht

Buchclub der Heinrich-Böll-Gesamtschule in Chorweiler
Copyright: Nabil Hanano
„Lass mal City gehen.“ Das ist ein typischer Satz zwischen Schülerinnen und Schülern an der Heinrich-Böll-Gesamtschule (HBG) in Chorweiler. Gemeint ist ein Ausflug ins örtliche City-Center. Im Unterricht an Kölns drittgrößter Gesamtschule geht ein solcher Satz nicht durch. Denn: Die gesamte Lehrerschaft hat sich im Jahr 2022 darauf verständigt, dass Sprachförderung ein Schwerpunkt der Schule ist.
„Sprache zu verstehen, ist der Schlüssel zur Bildung“, begründet Jutta Fessler, didaktische Leiterin, die Entscheidung. Nach einer Lehrerfortbildung gibt es nun in allen Fächern einen sprachsensiblen Unterricht. „Wir achten auf vollständige Sätze“, nennt Fessler ein Beispiel dieses Perspektivwechsels.
Sprache entlasten
Viele Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund, einige kommen aus bildungsfernen Elternhäusern. „Wir müssen halt die Schülerinnen und Schüler da abholen, wo sie sind“, sagt Fessler. Ein Hauptthema sei es, „Sprache zu entlasten“. Das bedeutet, kompliziertere Wörter zu erklären. Denn nur wenn die Schlüsselwörter verstanden werden, erschließen sich Zusammenhänge und Aufgaben werden lösbar. Fehlt das Verständnis, zieht das einen Rattenschwanz an negativen Folgen nach sich - von Unruhe in der Klasse bis hin zu schlechten Leistungen.
Neben dem Fokus auf Sprachverständnis in allen Fächern gibt es weitere Angebote: Schulweite Vorlesewettbewerbe, einen Buchclub und ein spezielles Angebot für Fünftklässler. „Die ersten zehn Minuten in jeder Deutschstunde in der 5. Klasse wird gelesen“, erklärt Regine Brand-Schmidtlein. Sie ist Deutschlehrerin und Koordinatorin für Sprache an der Schule. Wie das Lesen geübt wird, ist beachtlich: Es ist „chorisches Lesen“.
„Chorisches Lesen“
„Da verlief die Tusche“, lesen Laura (10) und Lara (10) wie aus einem Mund. Jedes der beiden Mädchen hält eine Ausgabe eines Bands von „Gregs Tagebuch. Keine Panik“ in den Händen. Beide lesen laut, ihr Tempo hat sich angeglichen. In der ganzen Klasse und auch auf dem Gang verteilt sind Tandems von zwei Kindern. „Manchmal hat einer mehr Energie, dann zieht der den anderen mit“, sagt David. Der Elfjährige wühlt sich zusammen mit Klassenkamerad Deniz durch „Harry Potter, Band 7“. 767 Seiten.
Was die Kinder lesen wollen, dürfen sie selbst aussuchen. „Zum Einstieg haben wir mit der gesamten Klasse ein Buch gelesen“, erzählt Brand-Schmidtlein. Die Lektüre: „Das Buch der seltsamen Wünsche“ in einer gekürzten Version. Wichtig sei gewesen, dass es trotz der Kürzungen eine literarische Sprache habe, sagt die Lehrerin. Denn nur so können die Kinder Sprachgefühl entwickeln.
Bildungssprache als Schlüssel zur Karriere
Bildungssprache zu beherrschen, ist das erklärte Ziel. Das bedeutet den sicheren Umgang mit Grammatik, komplizierten Satzgefügen, Komparativ, Zeiten und ein reicher Wortschatz. „Bildungssprache ist die Voraussetzung für ganz viele Wege. Ohne Bildungssprache kein Studium“, bringt es Brand-Schmidtlein auf den Punkt.
Dabei sei es egal, in welcher Sprache die Vermittlung geschehe. „Eltern sollen ruhig ihre Muttersprache sprechen“, findet die Lehrerin. Wenn es jedoch zu Hause nur einen Fernseher, aber kein einziges Buch gebe, dann sei es „ein hartes Brot“ für die Kinder, sich Sprache anzueignen und sie als wirksames Instrument zu nutzen. Beispielsweise, um sich differenzierter über Inhalte auszutauschen.
Buchclub bei Lit.Cologne dabei
Ein solcher Austausch findet in der HBG im Buchclub statt. Susanne Viegener hat ihn ins Leben gerufen. „Ich habe Sprachen studiert und lange in Mexiko gearbeitet. Seit 2020 bin ich mit Leib und Seele MPT-Kraft“, erzählt sie. MPT-Kräfte unterstützen Lehrerinnen und Lehrer in multiprofessionellen Teams. Einmal wöchentlich treffen sich lesebegeisterte Schülerinnen und Schüler in der geräumigen Bibliothek der HBG. Sie stellen sich gegenseitig ihre Leseerlebnisse vor, schreiben Rezensionen und entscheiden mit, wenn es um Neuankäufe geht. Und sie diskutieren. Auch mit dem Schulleiter.
„Was verstehen Sie unter Intuition?“, fragte beim jüngsten Treffen Abudi (14) Schulleiter Rolf Grisard. Auf die Idee zu dieser Frage hatte den Jungen, der vor sieben Jahren mit seinen Eltern aus Syrien geflüchtet war, die Lektüre des Bestsellers „Wo bitte geht's zum guten Leben?“ von Ina Schmidt gebracht. Bei der Lit.Cologne 2024 interviewen die Buchclub-Mitglieder die Autorin im Rahmen einer Lesung. Ein Projekt, für das die jungen Menschen Feuer und Flamme sind.