Der Kölner Verein berät seit 35 Jahren zu sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen. Die Mitarbeiter haben in diesen Jahren in viele Abgründe geblickt – und viel Hilfe gegeben.
Sexuelle Gewalt an Kindern und SäuglingenWie „Zartbitter“ den Babysitter-Fall von Zollstock aufdeckte
Nach Lüdge, Bergisch Gladbach und Wermelskirchen kommt eine Frage immer wieder auf: Wie können wir Kinder vor sexueller Gewalt schützen? Ursula Enders ist Mitgründerin und Vorstand des Vereins Zartbitter, Kölns Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen. Ihre Broschüre „Was tun, wenn ich sexuellen Missbrauch vermute?“, die sich an Fachkräfte und Eltern richtet, ist alleine seit Oktober in Köln und Umland 20.000 Mal verteilt worden. Der Versand der Präventionsmaterialien boomt.
Missbrauchsfälle, die in Dimension und Grausamkeit denen ähneln, die erst kürzlich aufgedeckt wurden, kennt Enders bereits aus den 1990er Jahren. „Wir konnten es damals nur nicht nachweisen. Es war unerträglich, dass gar nichts passierte“, sagt Enders. „Durch die aktuellen Fälle wird endlich geglaubt, womit wir in der Beratung schon immer konfrontiert wurden: sexuelle Gewalt an Kindern und Säuglingen. Dass diese jetzt durch Bildmaterial beweisbar ist, erleichtert vieles.“
Frauen als Täterinnen
Ursula Enders verspürt Erleichterung, wenn ein neuer Fall aufgedeckt wird. Sie selbst war als Kind Opfer von sexuellem Missbrauch, wurde danach von anderen Kindern geschützt. „Für mich ist das kein Thema zur Ohnmacht.“ Zartbitter wurde vor 35 Jahren in Köln von ihr gegründet, der Verein ist seit 1995 in der Südstadt beheimatet. Schon seit 1978 ist Enders eine Vorreiterin auf dem Gebiet. Sie fungiert auch als fachpolitische Beraterin, gibt bundesweit Impulse für die persönlichen Rechte von Kindern. Dabei eckte sie oft an. Als sie Mitte der 80er Jahre auf den sexuellen Missbrauch an Jungen aufmerksam machte, wurde sie auf Veranstaltungen beschimpft. Sie solle erst mal ihr eigenes Männerbild zurecht rücken. Als sie Jahre später über die Rolle der Frau als Täterin sprach, gab es einen erneuten Aufschrei. „Dabei belegen es unsere Fallzahlen deutlich: 20 Prozent aller Übergriffe gehen von Mädchen und Frauen aus“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin.
Jahrelang habe man den Verein öffentlich nur über Präventionsarbeit dargestellt, sagt Enders, die viele Abgründe gesehen hat. Das jüngste Kind, das ihr durch Gesten den Missbrauch durch den Vater schilderte, war 18 Monate alt. Es sind Themen, die für die meisten Menschen schier unerträglich seien. „Wenn wir in den 90er Jahren die massive Gewalt öffentlich gemacht hätten, mit der wir konfrontiert wurden, wären die Menschen vor uns zurückgeschreckt.“
Anfeindungen gab es damals viele. Heute nicht mehr. „Da spürt das Team schon eine Veränderung“, sagt Geschäftsführer Philipp Büscher. „Auch Kindern wird heute sehr viel früher geglaubt und Kinder werden sehr viel früher geschützt.“ Fälle werden schneller aufgedeckt, da sich Kinder und Jugendliche oft Hilfe holen. Wie im Fall des Babysitters aus Zollstock. In dem Missbrauchsfall, der im April vor dem Kölner Landgericht verhandelt wird, sollen sieben Jungen und 15 Mädchen von einem 34-Jährigen missbraucht worden sein. Das jüngste Opfer war anderthalb Jahre alt. Aufgeklärt wurde der Fall erst durch Mithilfe der Beratungsstelle: Die Eltern eines Kindes waren mit großer Beweislast zu Zartbitter gekommen. „Eine Kollegin hat sie überzeugen können, Strafanzeige zu erstatten“, berichtet Enders. „Für uns war das nicht neu, wir hatten schon immer mit Missbrauch durch Babysitter zu tun.“ Was nun aber folgt, ist eine der größten Stärken von Zartbitter: Als Reaktion auf diesen Fall wurde nur wenig später eine Info-Broschüre erstellt, „Gesundes Misstrauen von Eltern schützt Kinder vor Missbrauch durch Babysitter“, die kostenlos heruntergeladen werden kann.
In Köln kann die Fachstelle den Bedarf an Anfragen inzwischen nicht mehr decken. Es sind zwischen 700 und 800 Fällen jährlich, die an Zartbitter herangetragen werden. Fünf Stellen hat der Verein, besetzt mit Psychologinnen und Psychologen, Sozialarbeiterinnen und -arbeitern. Rund die Hälfte aller Anfragen gehe auf sexuelle Gewalt innerhalb von Peer-Gruppen zurück, also von Gleichaltrigen. „Wir haben in letzter Zeit ebenfalls häufig mit der Vermutung sexuellen Missbrauchs durch Betreuungspersonen zu tun, explizit von Kindern im Vorschulalter“, sagt Enders. Bereits Anfang der 90er Jahre forschte Enders zu systematischem Missbrauch in Institutionen und Täterstrategien. Nicht zuletzt, weil sie selbst den Fall eines früheren Kollegen aus Münster mit aufdeckte – ein Mitarbeiter des Kinderschutzbundes. Weitere Themen sind sexuelle Gewalt im Internet oder Übergriffe unter Kindergartenkindern.
Großer Fortbildungsbedarf
„Wir haben einen enormen Fortbildungsbedarf“, sagt Geschäftsführer Büscher. Das liege auch daran, dass Kinderschutz nicht auf den Lehrplänen der Universitäten oder Fachausbildungen stehe. Gesetzt wird auf kleinere Fortbildungseinheiten innerhalb eines Teams, etwa von Kitas. Rund zwei Stunden geht es darum, wie Kinder geschützt und „klassischen“ Fehler vermieden werden können. „Das kann zum Beispiel sein, sich zu schnell der Person mitzuteilen, gegenüber der ein Verdacht besteht“, sagt Enders. Oft führe das dazu, dass Kinder gerade dann von Tätern zum Schweigen gebracht werden. Gut sei es, die Situation zunächst zu beobachten und sich dann an die Fachstelle zu wenden. 75 Fortbildungen wurden seit dem Sommer bereits in Kölner Institutionen gemacht, gestützt wird das ganze von Videomaterial, das in der Corona-Zeit entstanden ist.
Alle Materialien, vor allem für Kinder und Jugendliche, werden alltagsnah und visuell erarbeitet, zusammen mit der Zielgruppe. Gezeichnete Szenen, etwa aus dem Jugendzentrum Glashütte in Porz oder von einem Schulhof in Bickendorf, liefern Gesprächsstoff. Für kleinere Kinder gibt es Bilderbücher. Außerdem entwickelt Zartbitter als ein Konzeptbaustein Theaterstücke zu aktuellen Themen, mit denen sie in Schulen und Kindergärten auftreten.
„Die Präventionsarbeit stärkt die Opfer, sich ihren Freundinnen und Freunden mitzuteilen“, sagte Enders. Der Erfolg von Zartbitter sei durchaus messbar: Philipp Büscher sagt, es sei durch viel Aufklärungsarbeit gelungen, in den letzten Jahren vor allem die Fallzahlen bei Übergriffen von Kindern an anderen Kindern in Köln zu senken. „Die Arbeit hier ist sehr schnell sehr wirksam. Sobald hier etwas passiert, wird es besser.“
Kontakt
Beratungstermine und Präventionsmaterial gibt es online unter www.zartbitter.de, unter 0221/ 31 20 55 oder per Maile.