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„Superkraft und Achillesferse“So ist das Leben mit einem Pflegekind – Kölner Familie erzählt

Lesezeit 6 Minuten
ARCHIV - Eine Familie geht bei Sonnenuntergang über einen Weg (Symbolbild)

In NRW lebten 2022 mehr als 26 000 junge Menschen in Vollzeitpflege. (Symbolbild)

Wenn Eltern ihre Kinder nicht versorgen können, werden sie häufig in Pflegefamilien untergebracht. Eine Kölner Mutter kann sich das Leben ohne ihre kleine Pflegetochter nicht mehr vorstellen.

Melissa hat zwei Väter: einen Papa und einen „Baba“. Sie hat auch zwei Mütter, eine Mama und eine „Bauchmama“. Melissa lebt nicht bei ihren leiblichen Eltern, sondern in einer Pflegefamilie in Köln. Mit acht Monaten ist das nun zweieinhalbjährige Mädchen zu Anna Schneider (alle Namen von der Redaktion geändert) und ihrem Lebensgefährten gekommen. „Ihre leiblichen Eltern konnten sich nicht so um Melissa kümmern, wie sie es gebraucht hätte“, sagt Anna Schneider. Die 37-Jährige kann sich ein Leben ohne ihre geliebte Pflegetochter mittlerweile nicht mehr vorstellen.

Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums wurden im Jahr 2022 deutschlandweit insgesamt 71 922 Kinder und Jugendliche in Vollzeit in Pflegefamilien betreut, in Köln sind es rund 520 Kinder und Jugendliche in 450 Pflegefamilien. Etwa die Hälfte fällt unter die sogenannte Familien- und Netzwerkpflege, wo sich Verwandte oder Freunde um die Kinder kümmern.

Kinder und Pflegefamilie müssen gut zueinander passen

Die andere Hälfte sind Familien in der sogenannten „Fremdpflege“, wo Eltern und Kinder einander vorher nicht kannten. So ist es auch in Melissas Fall. „Mein Lebensgefährte hat bereits eine erwachsene Tochter“, berichtet Anna Schneider. Diese wohnt schon nicht mehr zu Hause. „Wir wollten unbedingt auch ein gemeinsames Kind“, so Schneider weiter.

Doch die 37-Jährige leidet an der Krankheit Endometriose, weshalb die jahrelangen Versuche, schwanger zu werden, erfolglos bleiben. „Ich konnte einfach nicht ganz abschließen mit dem Thema, deshalb habe ich im Internet viel über Adoptionen und Pflegefamilien gelesen“, sagt Schneider. „Und dann habe ich zu meinem Lebensgefährten gesagt: Was hältst du davon, wenn wir uns als Pflegeeltern bewerben?“

Die Entscheidung fällt. Das Paar kontaktiert den Pflegekinderdienst der Stadt Köln und bekundet sein Interesse. Die beiden durchlaufen einen Bewerbungsprozess, in dem festgestellt wird, ob sie sich als Pflegeeltern eignen und in dem sie sich unter anderem durch das Besuchen spezieller Seminare auf ihre neue Aufgabe vorbereiten können.

Regelmäßiger Kontakt zum leiblichen Vater

Und dann ist es soweit: Anna Schneider und ihr Partner erfahren, dass sie als Pflegeeltern für ein kleines Mädchen in Frage kommen. „Die Mitarbeiter vom Pflegekinderdienst überlegen sich vorher genau, welches Kind aus welcher Herkunftsfamilie gut zu der jeweiligen Pflegefamilie passt“, erklärt Anna Schneider.

Zunächst wird Melissa ihnen nur schriftlich „vorgestellt“, also ohne Foto und nur mit einigen Informationen über ihr Alter und ihre Herkunft. Doch das reicht schon. „Ich habe meinen Lebensgefährten angeguckt und schon gesehen, dass er auch gedacht hat: Ja, auf jeden Fall, das machen wir“, erinnert sich die braunhaarige Frau, die ein Perlenarmband mit dem Namen ihrer Pflegetochter trägt.

Der Moment, in dem sie Melissa zum ersten Mal sieht, ist besonders emotional für sie: „Ich fand sie einfach wunderschön und super süß. Ich wusste, dass sie einziehen wird bei uns, und dass das alles passt und richtig ist.“

Es gibt am Anfang jedoch durchaus Anlass zur Sorge: Der Gesundheitszustand des kleinen Mädchens ist unklar, es steht der Verdacht im Raum, dass sie Epilepsie oder eine Entwicklungsverzögerung haben könnte.

Anna Schneider, Sonderpädagogin von Beruf, und ihr Lebensgefährte sind sich aber einig, dass sie die Kleine so annehmen wollen, wie sie ist. „Wir haben immer gesagt, es kann bei einem leiblichen Kind ja auch passieren, dass es körperliche oder geistige Behinderungen oder Verhaltensauffälligkeiten gibt“, sagt Schneider. „Es gibt nichts, wo wir denken, dass wir das als Team nicht schaffen können.“

Doch die kleine Melissa entwickelt sich prächtig. Sie lernt schnell laufen und sprechen, ist neugierig und spielt am liebsten draußen. Berührungsängste hat sie nicht: Besuchern, die in die Wohnung kommen, zeigt sie als erstes stolz ihre grüne Armbanduhr, ihren Kinderwagen oder ihren Würfelbecher. „Sie übt sogar schon Fahrradfahren, und Schwimmen ist gerade auch total angesagt“, lacht ihre Pflegemutter.

Sie und ihr Lebensgefährte sind berufstätig, einen Teil des Tages verbringt die kleine Melissa daher bei einer Tagesmutter. „Wir haben aber auch beide unsere Arbeitsstunden reduziert, so dass wir beide jeweils einmal in der Woche frei haben. Dann können wir auch einfach mal einen Ausflug machen.“

Auch die Familien der beiden Pflegeeltern unterstützen die drei: „Wenn hier einen Tag die Tagesmutter nicht kann, dann kommt Oma direkt für 48 Stunden vorbei und springt ein“, berichtet Anna Schneider. „Und wir sind auch total oft in den Ferien da. Es ist schon schön, wenn man so einen Hintergrund hat, wo man weiß, dass man sich immer auf Leute verlassen kann.“ Auch der Pflegekinderdienst des Jugendamtes begleitet die Familie eng, macht regelmäßig Hausbesuche, ist Ansprechpartner bei Fragen und Problemen.

Anna Schneider ist für Melissa „Mama“ — doch das Kind stellt bereits Fragen über ihre leiblichen Eltern, versteht, dass etwas ihre Familie von anderen unterscheidet. „Sie hat mich zum Beispiel schon einmal gefragt, ob sie in meinem Bauch war“, erzählt Anna Schneider. „Und dann sage ich ihr: ‚Nein, du hast noch eine Bauchmama, bei der warst du drin‘.“ Sie und ihr Lebensgefährte gehen offen mit dem Thema um, erklären dem Kind, dass es viele verschiedene Familienmodelle gibt.

Melissas leibliche Mutter besucht die Schneiders nicht, das Mädchen hat so gut wie keine Erinnerungen an sie. Die Pflegeeltern schicken ihr nur gelegentlich E-Mails und einige Fotos, um sie über Melissas Entwicklung auf dem Laufenden zu halten. „Irgendwann ist der Kontakt einfach eingeschlafen“, sagt Anna Schneider.

Ihren Vater dagegen sieht die Zweieinhalbjährige etwa einmal im Monat. Während dieser vom Jugendamt organisierten Treffen unternimmt sie etwas mit ihm und den Pflegeeltern, um ein gutes Verhältnis zu ihm aufzubauen. Ein Bild von Melissas aus dem Libanon stammenden „Baba“ hängt auch an der Familien-Fotowand im Wohnzimmer. „Das ist mittlerweile echt ein schöner Kontakt mit schönen Treffen. Es funktioniert gut“, sagt Anna Schneider. „Das ist aber auch ein Prozess gewesen, bis sich das so entwickelt hat.“

Anders als bei einer Adoption wird bei Kindern, die in einer Pflegestelle leben, versucht, den Kontakt zur Herkunftsfamilie möglichst aufrecht zu erhalten, so dass diese vielleicht einmal wieder das Sorgerecht für das Kind übernehmen kann, wenn sich die Lebensverhältnisse stabilisieren. Melissa hat außerdem einen Vormund, der bestimmte rechtliche Entscheidungen für sie trifft und bei Angelegenheiten wie der Beantragung eines Reisepasses hilft, wenn die Familie in Urlaub fahren will.

Auch wenn es aktuell so aussieht, dass Melissa bei der Familie Schneider bleiben wird, bis sie volljährig und selbstständig ist, besteht immer die Möglichkeit, dass sie einmal wieder gehen muss. Doch mit diesem Gedanken will sich Anna Schneider nicht zu lang beschäftigen — zu innig ist die Liebe zu Melissa, zu sehr ist das Mädchen ein Teil des Familienlebens.

„Wenn ich mich jetzt hinsetzen und immer darüber nachdenken würde, würde der Alltag, glaube ich, nicht so gut laufen, wie er jetzt läuft“, sagt die Pflegemutter. „Ich wüsste nicht, was ich machen würde, wenn Melissa nicht mehr da ist. Ich sage immer, sie ist sowohl meine Superkraft als auch meine Achillesferse.“

Anna Schneider bezeichnet sich selbst nicht als gläubig, doch ein wenig fühlt sich alles schon wie eine Fügung des Schicksals an. „Meine Mutter hat früher, als ich total verzweifelt war wegen des unerfüllten Kinderwunsches, mal gesagt, es wird alles irgendwann Sinn machen“, sagt sie. „Und das hat mich damals immer super wütend gemacht, weil ich gedacht habe: ‚Was weißt du schon?' Aber jetzt im Nachhinein macht tatsächlich alles Sinn.“