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Aus Kölns Partnerstadt LilleWie Hélène Hémery nach 53 Jahren ihren Vater gefunden hat

Lesezeit 4 Minuten

Lucette (rechts) mit ihrer noch kleinen Tochter Hélène.

  1. Die Französin Hélène Hémery erfuhr 53 Jahre lang kein Wort über ihren Vater.
  2. Ein Brief aus einem alten Portemonnaie brach das Schweigen ihrer todkranken Mutter.
  3. Eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg, die auf einem Friedhof in Saarbrücken vermeintlich ihr Ende findet.

Köln/Lille – Der Brief ist alt, verblichen und sorgsam geschützt durch eine Plastikhülle. Vorsichtig entfaltet Hélène Hémery das Kleinod. Durch den zufälligen Fund des Briefes erfuhr die Französin, die heute in Kölns Partnerstadt Lille wohnt, wer ihr Vater war: ein deutscher Wehrmachtssoldat, während des Zweiten Weltkrieges stationiert in Paris.

Hélène ist zum Sommerfest der Deutsch-Französisch-Belgischen Gesellschaft nach Köln gekommen, die ihr 70-jähriges Bestehen feiert. In einem Reihenhaus im Kölner Norden erzählt sie ihre Geschichte und zeigt den Brief, der vor 25 Jahren ihr Leben veränderte. „Meine Mutter hat mir nie verraten, wer mein Vater war“, sagt die 75-Jährige. Dabei hat sie als Kind oft gefragt, auch noch als Erwachsene – zum Beispiel bei der Geburt ihrer eigenen Töchter. Die Mutter Lucette antwortete mit Schweigen. „Dadurch fühlte ich mich, als würde ich selbst gar nicht existieren.“

Das Geheimnis aus dem alten Portemonnaie

Bis ihre Mutter plötzlich ins Krankenhaus musste. Hélène war 53 Jahre alt und hatte drei Kinder. Lucette bat ihre Tochter, ihre Sozialversicherungskarte aus einer Schublade im Nachtschränkchen zu holen. Und dort, in einem alten Portemonnaie, fand Hélène den Brief. „Zum Glück war ich neugierig!“ Von einem Fredy, der 1948 aus Saarbrücken an den Bruder ihrer Mutter schrieb, er würde sich jetzt, da sich die Wirren des Krieges gelegt hätten, auf die gemeinsame Zukunft mit Lucette und Hélène freuen.

Doch warum wurde nichts aus dieser gemeinsamen Zukunft? „Mein Onkel hat meiner Mutter den Brief nie gegeben“, sagt Hélène. Wahrscheinlich wollte er sie und Hélène schützen. Frauen, die im Krieg mit den Besatzern anbandelten, waren danach Schimpf und Schande ausgeliefert, bekamen die Haare geschoren und wurden durch die Straßen gejagt; ihre Kinder wurden als Kinder des Feindes beschimpft. Dass Lucette den Brief doch noch bekam, ist ihrer Mutter, also Hélènes Großmutter, zu verdanken: Kurz vor ihrem eigenen Tod gab sie ihn der Tochter.

Der entscheidende Brief: Hélènes Vater Friedrich Strohm versuchte damit 1948 Kontakt zu Lucette und seiner Tochter aufzunehmen.

Hélène wusste erst nicht, wie sie ihre Mutter auf den Fund ansprechen sollte. Die hatte Krebs, wurde operiert, zwei Monate ging es ihr sehr schlecht. „Aber ich hatte nur Gedanken an meinen Vater im Kopf.“ Im Auto auf dem Weg vom Krankenhaus nach Hause fasste sie sich ein Herz und erzählte der Mutter von ihrem Fund. Die war erleichtert und rief: „Endlich weißt du es!“ Sie selbst hatte es nie über sich gebracht, das Schweigen zu brechen. Zu groß waren die Gefühle der Scham und der Schuld. Doch jetzt konnte sie ihrer Tochter erzählen, was für ein liebevoller Mann ihr Vater gewesen war.

Die Suche nach dem „Toten“

Die hatte gar kein Problem damit, dass sie einen Deutschen zum Vater hatte. Sie wollte mehr wissen und bat eine deutsche Freundin um Hilfe, die sie in den Sommerferien am Strand von La Rochelle kennengelernt hatte. Sie sollte auf den Friedhöfen in Saarbrücken nach dem Grabstein ihres Vaters suchen. Der war einige Jahre älter als ihre Mutter gewesen, „ich dachte, ich suche nach einem Toten“. Doch die Freundin wurde nicht auf dem Friedhof, sondern im Telefonbuch fündig.

Das Wiedersehen zwischen Lucette und und ihrem Vater Fredy.

Mit einem Telefonanruf fühlte die Freundin bei dem Deutschen vor, erfuhr, dass er tatsächlich 1943 Soldat in Paris war. Als sie ihm sagte, da sei eine Frau in Frankreich, die ihn gerne kennenlernen wollte, mit Namen Hélène, antwortete er: „Das ist meine Tochter!“ 88 Jahre alt war er und gerade verwitwet. Fünf Jahre hatten die beiden noch miteinander, auch die Mutter traf ihn einige Male. Zwei wichtige Dinge habe der Vater ihr gesagt: Er sei nie ein Nazi gewesen. Und: „Du warst das Kind unserer Liebe.“ Endlich, so Hélène, „habe ich existiert“.

Freundschaft zwischen Köln und Lille

In der deutsch-französischen Freundschaft gehörte Köln zu den Vorreitern: Bereits 1958, fünf Jahre vor Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags zwischen Frankreich und Deutschland, wurde die Partnerschaft zwischen Köln und dem französischen Lille geknüpft und seither in zahlreiche Schulpartnerschaften vertieft.

Auch auf privater Ebene sind über Jahre Kontakte gewachsen. In Köln pflegen zwei Gesellschaften diese Kontakte: Die Deutsch-Französisch-Belgische Gesellschaft (Société Amicale Franco-Belgo-Allemande) mit der Vorsitzenden Uta Karst, societe-amicale.de, und die Deutsch-Französische Gesellschaft mit der Vorsitzenden Angelika Sandte-Wilms, dfgkoeln.de.

Die Amicale Nationale des Enfants de la Guerre vertritt Kinder französischer Frauen und deutscher Wehrmachtssoldaten oder Kriegsgefangener. Sie sucht aber auch den Kontakt zu Kindern deutscher Frauen und französischer Zwangsarbeiter oder französischer Soldaten. Hélène Hémery bittet Interessierte um Kontaktaufnahme über anegfrance.free.fr.