Interview

Kölns Direktorin der Stadtbibliothek geht
„Ich konnte etwas für die Gemeinschaft tun“

Lesezeit 7 Minuten
„Nach den Sternen greifen und (fast) Unmögliches wagen“ ist das Lebensmotto von Hannelore Vogt, die im Portrait, mit klarem Blick und gestikulierend zu sehen ist.

„Nach den Sternen greifen und (fast) Unmögliches wagen“ ist das Lebensmotto von Hannelore Vogt.

Mit Leidenschaft und Pioniergeist hat Hannelore Vogt die Kölner Bibliotheken zu Orten umgestaltet, die immer mehr Menschen nutzen. Jetzt hat die 66-Jährige neue Pläne.

Seit mehr als 15 Jahren sind Sie Direktorin der Stadtbibliothek, in vier Tagen beginnt auf eigenen Wunsch ihr neuer Lebensabschnitt. Wie geht es Ihnen?

Ganz merkwürdig. Ich laufe auf Hochtouren, in einem emotionalen Ausnahmezustand, und mache zugleich meine normale Arbeit. Dazu kommt, dass zum Ende der Zentralbibliothek vor der Sanierung sehr viel zu organisieren ist. Der Umzug, Planungsläufe für die Ausstattung des Interims, die Haushaltsplanung 2025/26…

Was machen sie am 1. Juli?

Den Schlüssel abgeben. (lacht) Am 30. Juni bin ich während der Sonntagsöffnung in der Zentralbibliothek, mache abends das Licht aus und schließe ab. Am Montag gebe ich dann den Schlüssel ab.

Waren Sie ein „Bücherkind“, das unter der Bettdecke mit der Taschenlampe liest, wenn Schlafenszeit ist?

Absolut. Ich habe in den Büchern gelebt, „Die Kinder von Bullerbü“ war praktisch meine Familie. In unserer fränkischen Kleinstadt gab es eine Bibliothek, die von zwei alten Herren geleitet wurde. Dort habe ich beim Buchstaben A angefangen und bis K von Danella über Doderer bis Dostojewski jedes Buch gelesen. Das hat mir bei meiner ersten Stelle in der Ein-Personen-Bibliothek eines Kurorts sehr dabei geholfen, die Lesenden zu beraten. Parallel dazu habe ich Kulturmanagement studiert. Dann war ich 15 Jahre Bibliotheksdirektorin in Würzburg, habe berufbegleitend promoviert, und 2008 ging es nach Köln.

Wie war der Anfang hier?

Manche Dinge habe ich hier nicht vorgefunden, wie etwa eine digitale Werkstatt. Zuerst habe ich die Kinderbibliothek neu konzipiert. Und Bücher eingebunden.

Wieso das?

Früher war es üblich, dass man die gestalteten Buchumschläge zerschnitt und an den Vorder- und Rückseiten wieder aufklebte, damit die Buchrücken einheitlich aussahen. Ich hatte ein System entwickelt, das mit bunten heilen Buchrücken funktioniert. Als ich nach Köln kam, wurden hier wieder die Buchumschläge zerschnitten! Ich habe dann einen Christstollen in unsere Buchbinderei mitgebracht und dem Team die neue Technik beigebracht.

Noch ein Blick zurück: 2019 wurden sie mit der Karl-Preusker-Medaille geehrt. In Ihrer Rede zitieren sie Heinrich Böll, der bei der Eröffnung der Stadtbibliothek 1979 gesagt hat: „Lesende Staatsbürger sind nicht die gehorsamsten.“ Wie wichtig ist die politische Dimension Ihrer Arbeit?

Sie ist sehr wichtig, gerade mit Blick auf Fake News und polarisierende Berichterstattung. Demokratieförderung ist ein Schlüsselthema für uns. Wir haben ein Demokratie-Kompetenzteam gebildet, um dieses Thema in allen Arbeitsfeldern immer im Blick zu haben. Hier sollten Bibliotheken keine neutrale Funktion haben, sondern eine Haltung einnehmen. Das tun wir auch in unseren Stadtteilbibliotheken, damit wir nicht nur die klassische bildungsbürgerliche Klientel erreichen. Wir integrieren das Thema in unsere zahlreichen Klassenführungen, bieten Schulungen zu Fake News an und setzen und mit künstlicher Intelligenz auseinander – etwa mit dem neuen, frei zugänglichen KI-Kiosk. Ich denke, wir arbeiten ganz im Sinne Heinrich Bölls.

Wie haben Sie es geschafft, oft in vorderster Reihe gesellschaftliche Entwicklungen und Bedarfe zu sehen und schnell entsprechende Angebote zu machen?

Ich werte jedes Jahr zehn Trend-Reports aus und schaue, was sind die Entwicklungen fürs kommende Jahr oder längerfristig. Daraus entwickeln wir unsere Maßnahmen. So hatten wir den ersten „Makerspace“, einen Mitmachort, in einer Bibliothek, der vom Ort zu einer Philosophie für Bibliotheken in Deutschland wurde. Auch das Nachhaltigkeitsthema ist durch das MINT-Angebot schon lange im Programm. Wir sind auch so schnell, weil wir Dinge einfach probieren, uns eine Fehlerkultur erlauben. Die Teams vertrauen mir. Sie wissen, wenn es nicht klappt ist das nicht schlimm, dann lassen wir es einfach wieder.

Wer seine Leitungsfunktion so versteht, hat gute Chancen, dass es auch ohne ihn gut weitergeht...

Man ist keine gute Führungskraft, wenn das System von einem abhängt. Es ist wichtig, dass man vorangeht, Impulse gibt und neue Strukturen schafft. So haben wir etwa schnell Kompetenzteams eingeführt, die eigenständig arbeiten. Und ich hatte von Anfang an gute Abteilungsleitende, das war ein großer Glücksfall. Auch wenn ich weg bin, wird es gut weiterlaufen!

Demokratieförderung ist eine Aufgabe. Gibt es weitere?

Gesellschaftliche Teilhabe und Gemeinschaft sind wichtig. Bei uns können Menschen in offene Angebote reinschnuppern und gemeinsam ins Handeln kommen. Das ist auch eine Chance, gegen Einsamkeit anzugehen – in jedem Alter. Wichtig für Teilhabe ist heute der Umgang mit neuen Technologien und sozialen Netzwerken. Wir haben Jugendliche gewonnen, die als Experten ihr Wissen kostenlos weitergeben. Ein bedeutendes Feld ist die Integration von Zugewanderten, interkulturelle Programme und Mehrsprachigkeit werden in einer bunter werdenden Gesellschaft immer wichtiger.

Ihre Neuerungen ermöglichen Menschen mit wenig Geld Teilhabe und schaffen mehr Chancengerechtigkeit. Etwa die Senkung der Beiträge, die Bibliothek der Dinge, die geplante Verdreifachung der Lernplätze in der Zentrale, die Ausleihe von Tablets. Und die zum „Dritten Ort“ umgestaltete Bibliothek in Kalk wurde zur bestbesuchten Stadtteilbibliothek...

Die Bibliotheken gehören allen Kölnerinnen und Kölner, sie werden ja von Steuergeldern bezahlt. Unsere Aufgabe ist es, sie die für die Menschen zu öffnen. Als ich kam, war die Zentralbibliothek sonntags und montags geschlossen. Wir sind doch kein Buchmuseum, das montags zu ist! Die Stadtteilbibliotheken waren samstags geschlossen, wenn Familien im Viertel unterwegs sind - das habe ich schnell geändert. Sonntags öffnen wird die Zentrale mit geschulten Hilfskräften auf nur zweieinhalb Stellen. Orte, an denen man sich ohne Konsumpflichtaufhalten, lernen oder gemeinsam aktiv werden kann, gibt es ja sonst kaum. 

Und auch die Umgestaltung der Zentrale ist fertig geplant. Sind Sie zufrieden mit dem Erreichten?

Ich wollte auf mein Berufsleben zurückblicken und sagen können „Schön war's“. Das kann ich jetzt. Und ich bekomme viele positive Rückmeldungen. Gestern hat mir eine Frau geschrieben „Ich danke Ihnen“. Das kommt häufig vor, und es freut mich sehr! Ich denke, ich konnte etwas für die Gemeinschaft tun.

Bleiben Sie der öffentlichen Bibliothek verbunden?

Sie werden mich nicht als Rentnerin auf Bibliothekskongressen finden. Aber ich stelle mein Wissen sehr gerne zur Verfügung. Etwa dem Weltverband der Bibliotheken, der angefragt hat, ob ich Mentorin für Nachwuchskräfte weltweit werden möchte. Ich bin Gründungsmitglied der NGO „Public Libraries 2030“, die ihr Büro in Brüssel hat, werde mich bei Wikimedia engagieren, bin Mitglied in den Netzwerken „Grüne Bibliothek“ und „Lighthouse libraries“ und in diversen Beiräten. Ich war für für das Goethe-Instutut in über 40 Ländern, deshalb habe ich ein großes Netzwerk. Und während meiner Reise mache ich ein KI-Studium. Kommen Bücher mit auf die geplante Weltreise? In digitaler Form. Aber ich werde vor Ort Bücher kaufen und zurücklassen für die nächsten Reisenden.

Lesen Sie in Originalsprache?

In Englisch und Spanisch. Moderne Gegenwartsliteratur und Sachbücher, zu KI oder zu Nachhaltigkeitsthemen, und manchmal Krimis.

Wie kommen Sie zur Ruhe?

Wenn ich mit Freunden zusammen bin. Ich bin ein sehr treuer Mensch, der Kontakte pflegt. Unser erster Stopp der Reise ist Singapur, dort holt uns ein Freund, der ehemaligen Leiter der Bibliothek am Flughafen ab, wir dürfen bei ihm wohnen. Und mein Mann, der erdet mich manchmal auch.

Nach Ihrem Ausscheiden gehen Sie auf Weltreise...

Jetzt ist für mich ein stimmiger Zeitpunkt, aufzuhören. Aber ich gehe mit Tränen in den Augen, denn ich verliere ganz viele liebe Menschen. Deshalb die große Reise. Wir haben ein paar Meilensteine geplant, der Rest ergibt sich, wir werden in Regionen länger bleiben, nicht dauernd herumfliegen. Silvester feiern wir in Sydney, damit erfülle ich mir einen Jugendtraum. Und an Weihachten sind wir bei einer Bibliotheksfreundin zu einer australischen Weihnacht in der Großfamilie eingeladen. Im Februar werden wir mit einem kleinen Postschiff auf die Marquesas in der Südsee fahren. Hier hat Paul Gaugin gelebt, er ist hier begraben, wie auch Jacques Brel. In Buenos Aires, einer meiner Lieblingsstädte, endet die Reise – mit einem Tangokurs!

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