Kölner „Spurensuche“Fotograf Chargesheimer – Gegen den Strich
Köln – In seinen 47 Lebensjahren schaffte es Chargesheimer, vielfältige künstlerische Akzente zu setzen und die Nachkriegszeit mit Provokationen aufzumischen. Am Mittwochnachmittag, 5. Januar 1972, wurde Chargesheimer in seiner Wohnung in der Jülicher Straße 24 tot aufgefunden. Gestorben war er wohl bereits in der Silvesternacht an einer Mischung aus Alkohol und Tabletten. Die Polizei vermutete Selbstmord. Ob aber Chargesheimer wirklich freiwillig aus dem Leben schied, weil er Angst hatte, den Zenit seiner Kreativität überschritten zu haben, konnte nie geklärt werden.
Geboren wurde er am 19. Mai 1924 in Köln als Carl Heinz Hargesheimer, doch pflegte er zu sagen: „Ich habe keinen Vornamen.“ Einen Künstlernamen legte er sich wohl unter anderem zu, um sich von seinem Vater Heinrich Hargesheimer abzusetzen, einem Finanzbeamten mit Sympathien für den Nationalsozialismus. Der Sohn studierte ab 1942 im „roten Haus“ der Kölner Werk-schulen am Ubierring 40 Grafik und Fotografie sowie anschließend an der Bayrischen Staatslehranstalt für Lichtbildwesen. Um dem Einzug zur Wehrmacht zu entgehen, opferte Chargesheimer freiwillig, so heißt es, einen Lungenflügel.
Dozent in Fotografie
Für seine Idee, Kölns Trümmerlandschaften in Buchform zu publizieren, fand er nach dem Krieg keinen Verleger. Also übernahm Chargesheimer Auftragsarbeiten, um die Rechnungen zu bezahlen. Er fotografierte für Zeitungen und die Werbung, dozierte über Fotografie in Düsseldorf. Aufsehen erregte dann 1956 seine Ausstellung im Kölnischen Kunstverein. Chargesheimers Foto-Porträts von Kölner Prominenten waren nicht ausfixiert, so dass sie sich während der Ausstellungszeit gelb verfärbten, verformten und verfielen.
1957 der nächste Paukenschlag: Chargesheimers Porträt von Konrad Adenauer wurde von der CDU als ein unzulässiger Eingriff in den Wahlkampf beschimpft. Das Foto, vier Tage vor der Bundestagswahl zum Titelbild des Spiegel gemacht, sei ein politisches Statement. Es zeige den Bundeskanzler als Greis und behaupte somit, hieß es, dass „der Alte“ dem Amt nicht mehr gewachsen sei. Adenauer gewann trotzdem die Wahl.
Und Chargesheimer? Publizierte allein zwischen 1957 und 1961 acht Fotobücher, etwa die legendären Köln-Bände „Unter Krahnenbäumen“ und „Cologne intime“, von der Zeitung „Die Welt“ damals als „der beste Bildband des Jahres“ geadelt. Gegenwind bekam er aber weiter, eben weil er nicht schönte und auch die Schattenseiten des Wirtschaftswunderlands ablichtete.
Ärger mit dem Essener Oberbürgermeister
Chargesheimer selbst meinte, er habe in dem mit Texten von Heinrich Böll versehenen Buch „Im Ruhrgebiet“ die härtesten Fotos gar nicht veröffentlicht. Trotzdem wütete der Essener Oberbürgermeister Wilhelm Nieswandt: „Die Ruhrgebietsstädte, und dies gilt auch für die Stadt Essen, sind es gründlich leid, von Außenseitern in einer Weise dargestellt zu werden, die nicht einmal mit der Realität der Gründerjahre übereinstimmt, geschweige denn mit der Gegenwart. Wir haben nicht die Absicht, derartige Veröffentlichungen unwidersprochen zu akzeptieren.“
Chargesheimer fotografierte nicht nur. Er erstellte surrealistische Fotomontagen und experimentierte mit gegenstandsloser Fotografie, die er durch Licht und Chemie auf Negativen oder direkt auf Fotopapier schuf. Er schuf Metall-Skulpturen, entwarf Bühnenbilder und inszenierte fürs Theater Stücke von Eugene O’Neill, Jean-Paul Sartre oder Max Frisch.
Wieder zum Skandal kam es 1962 bei der Deutschen Erstaufführung von Luigi Nonos Oper „Intolleranza“ an der Kölner Oper. „Der Atomblitz zündet, Hakenkreuze werden unter Trommelwirbel auf die Bühnendekoration projiziert, ein KZ-Foto erscheint in der Kölner Aufführung überlebensgroß auf der Bühnenrückwand“, schilderte der „Spiegel“. Nach der Aufführung gab es am Offenbachplatz einen 20 Minuten und 33 Vorhänge währenden Kampf zwischen vehementem Beifall sowie Pfui- und Buhrufen.
Bildband „Köln 5 Uhr 30“ auf der Photokina
Selbst als Chargesheimer 1965 lediglich als Laienschauspieler am Film „Nicht versöhnt“ nach Heinrich Bölls Roman „Billard um halb zehn“ mitwirkt, der als Startschuss für den Neuen Deutschen Film gilt, war wieder einmal die Kritik in Aufruhr.
Chargesheimers Schwanensang war der Bildband „Köln 5 Uhr 30“, der bei der Photokina 1970 spektakulär der Öffentlichkeit präsentiert wurde, als L. Fritz Gruber 32 Bilder übergroß auf Holzwände montierte und als Kulissenstadt aufstellte. Die Besucher konnten durch Chargesheimers Köln wandern: eine menschenleere Stadt, festgehalten auf tristen Schwarzweiß-Bildern, die später als Ausdruck einer Depression gedeutet werden sollten.
Trotz Tod weitere Auseinandersetzungen
Selbst mit seinem Tod endeten die Auseinandersetzungen um ihn nicht: „Während der Trauerfeier für den toten Photographen und Bühnenbildner Chargesheimer auf dem Kölner Westfriedhof kam es zu erregten Auseinandersetzungen vor der Friedhofshalle“, berichtete die Kölnische Rundschau am 14. Januar 1972: „Auf Wunsch der Familienangehörigen durften die vielen Freunde und Bekannten des Toten nicht an der Gedenkfeier teilnehmen. Mit Blumen und Kränzen standen sie zuerst ratlos und später erregt vor der versperrten Eingangstür.“ Die Freunde, unter ihnen Trude Herr, mussten warten, bis die Angehörigen des Toten die Halle durch einen Hinterausgang verlassen hatten, bis sie für wenige Minuten an den Sarg treten durften.
Es passt zu seinem Leben, dass Chargesheimers Grab verloren ging. Kaum zu glauben, aber lange Jahre war nicht mehr klar, wo er auf Melaten begraben liegt, bis die Chargesheimer Gesellschaft recherchierte und die Grabstätte „11 F:65“ fand. Die Stadt Köln ehrt ihn mit einem Platz am Hauptbahnhof und einem nach ihm benannten Stipendium.