1912 sank die als unsinkbar geltende Titanic und riss 1514 Menschen in den Tod. Zu den Überlebenden gehört auch ein gut situierter Kölner: Anselm Weyer zeichnet in seiner Spurensuche die Geschichte von Alfred Nourney nach.
Kölner SpurensucheDer Kölner, der den Untergang der „Titanic“ überlebte
Das berühmteste Schiff der Welt zog bei seiner Jungfernfahrt über 1500 seiner 2220 an Bord befindlichen Menschen in den Tod. Zu den Überlebenden gehörte der junge Kölner Alfred Nourney.
Spross einer reichen Kölner Weinhändlerfamilie war der am 26. Februar 1892 geborene Alfred Nourney. Ein Draufgänger. Unter anderem die Fliegerei zählte zu seinen Hobbys. Und dem anderen Geschlecht nicht abgeneigt. Angeblich, weil er gerade ein Hausmädchen der Familie geschwängert hatte, soll ihn die Mutter Adele im Frühjahr weg vom Sachsenring 99 geschafft und mit nach Paris genommen haben. Hier überschlug sich die Presse gerade mit Meldungen von diesem neuen Luxusdampfer, der soeben in Southampton ausgelaufen war und nun an der französischen Küste weitere Passagiere aufnehmen sollte. Ein Wunder britischer Schiffsbaukunst mit 46 000 Bruttoregistertonnen sollte da für 32 Millionen Dollar entstanden sein. Geschlagene 900 Mann allein an Besatzung waren an Bord, vom einfachen Matrosen bis hin zu Ingenieuren und Technikern.
Mutter buchte Ticket für Jungfernfahrt der Titanic
„Ich lag meiner Mutter so lange in den Ohren, bis sie mir eine Schiffskarte für die Jungfernfahrt der Titanic nach New York buchte“, berichtet Nourney. Die dachte sich wohl, ein Aufenthalt fernab des Dienstmädchens bei der amerikanischen Verwandtschaft komme gerade recht. Also ging es für Alfred mit einem der zwei Sonderzüge für die in Frankreich zusteigenden Titanic-Passagiere nach Cherbourg.
Als er am Nachmittag dort angekommen war, machte sich bei Nourney Enttäuschung breit. Das sollte die Titanic sein? „Ich hatte sie mir wesentlich größer und imposanter vorgestellt als das Schiff, das sich vor meinen Augen auf dem schmutzig braunen Hafenwasser wiegte.“ Als er das seinem Gepäckträger sagte, wiegelte dieser ab. Das sei doch nur ein Zubringerschiff. Die Titanic passe gar nicht in den Hafen hinein.
So war es fast schon dunkel, als sich Nourney auf hoher See dem riesigen Schiff näherte. „Wie ein Wolkenkratzer wächst die dunkle Schiffswand des 285 Meter langen Ungeheuers aus dem Meer heraus, je näher sich unser Schiff an den Riesen heranschiebt. Großen Gasbehältern gleichen die vier Schornsteine, und aus Tausenden von Luken und Fenstern ergießt sich strahlendes Licht über die Aufbauten und tanzt auf den glitzernden Wellen“, schildert Nourney. „Durch zwei Reihen weißgekleideter Stewards schreiten wir in den Empfangssalon der „Titanic“. Palmen und einschmeichelnde Musik empfangen uns. Drei Lifts nebeneinander führen zu den Kabinen Erster Klasse.“
Als Baron Alfred von Drachstedt an Bord
Deren legendären Luxus möchte sich der junge Bursche auch gönnen. Also nennt er sich an Bord kurzerhand Baron Alfred von Drachstedt und besorgt sich ein Upgrade in Kabine D38 der Ersten Klasse. Er ist begeistert. Er schwärmt von seinem „Baderaum, in dem ich in See- oder Süßwasser baden kann. Kalte oder angewärmte Seeluft kann ich einströmen lassen, und an meinem Bett steht das eleganteste Telefon, das ich bisher gesehen habe. Eine ganze Schalttafel befindet sich an der Wand. Jeder Druck auf einen Knopf bringt eine neue Überraschung, eine neue Bequemlichkeit.“
„Ich bin so glücklich auf meiner ersten Klasse!“, telegraphiert er der Mutter. „Ich kenne schon sehr nette Leute! Einen Brillantenkönig! Mister Astor einer der reichsten Amerikaner ist an Bord! Tausend Küsse.“ Aber auch an ein Fräulein Jarkonska, das am Rothgerberbach wohnte, telegrafierte er: „Drahtlosen Kuss, in Liebe Alfred.“ Vielleicht schrieb er an die Tochter des Dentisten Emil Jarkowski vom Rothgerberbach 1C?
Ruhig war die Nacht vom 14. auf den 15. April 1912. Das Meer lag schwarz und still. Nachdem ihn sein persönlicher Steward, telefonisch zum Dinner gebeten hatte, speiste Nourney erst im neuen Frack und ging dann zur Abendunterhaltung auf dem schwimmenden Luxushotel über. „Wenn auch keine große Abendgesellschaft war, so waren doch die Tanzsalons, die Bars und Cafés brechend voll.“ Als er beim Bridge im Rauchersalon saß, passierte es. „Kurz vor 12 Uhr geht auf einmal eine kleine ächzende Bewegung durch das Schiff. Der Whisky in den Gläsern schwankt ein wenig. Sonst nichts. Die Herren stocken einen Augenblick im Gespräch. Aber es ist vorbei. Die Maschine läuft gleichmäßig. Viele haben den kleinen Stoß überhaupt nicht bemerkt. Die Gespräche plätschern weiter.“ Nourney will aber misstrauisch geworden und an Deck gelaufen sein. Erst Eisbrocken auf den Ladeluken, dann Wasser auf den Tennisplätzen habe er bemerkt. Da setzten die Maschinen aus. „Über die kleine Wendeltreppe laufe ich auf das Oberdeck. Matrosen machen die Rettungsboote klar. „Die ganze Schiffswand hat der Eisbrocken aufgeschlitzt. Wir saufen ab, höre ich. Die Titanic sinkt!“
Unruhe an Bord der Titanic
Nach einem Abstecher in die Küche, um sich mit Whisky und Sandwiches zu versorgen, stürzte sich Nourney ins Getümmel. „Im Zwischendeck entsteht Unruhe. Plötzlich fallen Schüsse. Schreie werden laut. Die Zwischendeckler scheinen gegen die Wachmannschaften zu rebellieren. Auch in der ersten Klasse bricht Unruhe aus. Dumpfe Schläge gegen die verschlossene Tür, die zu den Rettungsbooten führt, hallen herauf. Dann ein gellendes Kommando: Women and children first! Die Türen werden geöffnet. Eine wahnsinnig schreiende Menschenmenge schießt auf die Rettungsboote los. Offiziere fuchteln mit den Revolvern, in der Luft herum, schießen. Die Masse ist nicht mehr zu halten. Das ist das Chaos.“
Wie überlebte aber der 20-jährige Kölner? Von der Menge mitgerissen, so erzählt Nourney später, habe er sich am dritten Rettungsboot festklammern können und sei durch einen Stoß hineingefallen. Das unvollständig besetzte Boot war das erste, das zu Wasser gelassenen wurde. Die Insassen paddeln verzweifelt, um weg von den Händen zu kommen, die aus dem Wasser griffen und das Boot fast zum Kentern brachten. Weg auch aus der Gefahrenzone des Sogs. Aus der Entfernung sah Alfred Nourney die Titanic sinken. „Ein gespenstisches Bild. Strahlend hell ist der Ozeanriese erleuchtet. Der Bug liegt bereits tief im Wasser. Das Heck ragt heraus. Ein tausendstimmiges Schreien. Dann verlöschen die Lichter.“ Noch nach dem Untergang hörte er etwas wie eine Sirene. Todesschreie der Menschen im eiskalten Wasser. „Wir können ihnen nicht helfen. Hunderte von Händen würden unser Boot in das nasse Grab zerren.“
Das Rettungsboot wurde von der Carpathia aufgefischt. Nourney telegrafierte von dort an seine Mutter. „Titanic gesunken! Gerettet an Bord von Carpathia. Cunard Line. Vollständig mittel- und kleiderlos. Alfred.“ Mit etwa 700 Überlebenden traf er am 18. April in New York ein. „Am Kai stehen Tausende von Menschen“, erinnert er sich. „Schweigend und ehrfürchtig.“
Nourney wurde nach Stationen in Frankreich und Spanien als Mercedesvertreter in Bad Honnef sesshaft, fuhr nebenbei erfolgreich Autorennen, machte weitere Weltreisen, spielte Tennis und ging weiter der Fliegerei nach. Er starb 1972 im Alter von 80 Jahren und fand im Familiengrab auf der Millionenallee von Melaten seine letzte Ruhe.