Eltern und Fachkräfte sind am Limit. So ist die Situation in den Kölner Kitas.
Betreuungsnotstand in Kölner Kitas„Eine Spirale, die ins Verderben führt“
10.30 Uhr im evangelischen Familienzentrum Kartause in der Südstadt. Erzieherin Barbara Schaefer-Niche und eine Kollegin hocken auf dem Boden in der Garderobe und helfen den Kindern der Gelben Gruppe beim Anziehen. Zeit zum täglichen Freispiel draußen. Alleine in die Matschhose schafft es kaum eines der 17 Kinder. „Wem gehören die Gummistiefel?“, will Schaefer-Niche wissen. Erfolglos hält sie sie hoch. „Eigentlich sollten die Eltern die Kleidung der Kinder beschriften“, erklärt die Erzieherin. Normalerweise funktioniert das auch.
Aber was ist schon vorhersehbar mit kleinen Kindern? „Der Klassiker, wenn die Kinder gerade angezogen sind, ist, dass sie auf die Toilette müssen“, erklärt die Erzieherin und lacht dabei. Wenn es denn keine Windel-Kinder sind. Gut ein Drittel der 70 Kinder hier tragen Windeln. Die jüngsten sind etwa ein Jahr alt. „Die Windel-weg-Party ist immer ein Meilenstein. Für uns und für die Kinder“, sagt die Erzieherin.
Nach über 25 Berufsjahren kann sie nur noch wenig erschüttern. „Magen-Darm-Infekt, Ringelröteln, Scharlach, Mumps, Läuse …“ Aus einer Klarsichthülle an der Garderobe können die Erzieherinnen alle möglichen Diagnosen herausfischen – und in einen Informationstext für die Eltern per Klettaufhängung einfügen. Gerade hängt dort nichts. „Das ist selten“, sagt Schaefer-Niche lakonisch.
Gruppen müssen geschlossen werden, Betreuungszeiten reduziert
Dass die Kinder gerade zu Beginn ihrer Kita-Zeit krank werden, ist unvermeidlich. Wenn die Erzieherinnen allerdings krank werden, kommt Jacqueline Pohl, die die Kita, die gleichzeitig Familienzentrum ist, leitet, ins Rotieren. Das Kinderbildungsgesetz (KiBiz) NRW regelt genau, wie das Verhältnis zwischen Kindern und Personal mindestens sein muss. Auf fünf Kinder unter drei Jahren (U3) muss mindestens eine Fachkraft kommen, bei den Kindern über drei Jahren ist das Verhältnis 1 zu 10. Wird das unterschritten, muss der Landschaftsverband Rheinland (LVR), bei dem das Landesjungendamt als Aufsichtsstelle angesiedelt ist, informiert werden. Dann greift der sogenannte „Handlungsleitfaden“. Die Folge: Gruppen müssen geschlossen werden, die Betreuungszeiten reduziert. In schlimmsten Fall werden Einrichtungen vorübergehend ganz geschlossen.
„Wenn morgens um kurz nach sieben eine Mail mit rotem Ausrufezeichen aus der Kita kommt, ist das schlecht und sehr gefürchtet“, sagt Vater Jochen Langenbach. Während es in vielen anderen Kitas klare Vorgaben gibt, wer kommen darf, setzt man im Familienzentrum Kartause auf Solidarität. „Wir haben eine Eltern-Whatsapp-Gruppe, in der wir uns absprechen, wer wen unterstützen kann. Das funktioniert gut“, sagt Langenbach. Weil er im Marketing arbeitet und ebenso wie seine Frau, die Personalentwicklung macht, das in der Regel auch aus dem Homeoffice kann, kann er einen plötzlichen Betreuungsausfall häufig auffangen.
Das geht längst nicht allen Eltern so. „Wir wissen, in welche Notlage die Eltern kommen, wenn die Betreuung ausfällt“, sagt Pohl. In der Kartause mussten bisher im neuen Kindergartenjahr, das zum August gestartet ist, einmal zwei der vier Gruppen reduziert werden. „Letztes Jahr war es über vier Wochen richtig hart mit Notbetreuung bei uns“, sagt Pohl. Das spiegelt den Kölner Trend. Im vergangenen Jahr war die Situation in ganz Köln so angespannt wie noch nie zuvor.
118 Einrichtungen im Dezember 2023 betroffen, 95 im April 2024
Nach Auskunft des LVR war die Hochzeit der Personalausfälle im November und Dezember 2023. Im November waren 116 Einrichtungen betroffen, im Dezember 118. In diesem Jahr war der Höhepunkt der Betreuungsausfälle im April: 95 Kölner Einrichtungen meldeten dem LVR „Land unter“.
Für vielen Eltern kommt der Betreuungsausfall einer Katastrophe gleich. „Es wird immer schlimmer. Wir können nicht mehr. Die Situation ist für viele Eltern extrem angespannt und sehr kräftezehrend. Manche wissen nicht mehr, wie sie noch arbeiten sollen. Es haben schon welche ihre Arbeit verloren. Es ist eine Spirale, die ins Verderben führt“, sagt Vater Markus Bohmann, der als Mitglied des Jugendamtselternbeirats Köln einen stadtweiten Überblick hat.
Im Jugendamt ist die Situation bekannt. „Die aktuelle Situation ist für alle Beteiligten herausfordernd“, schreibt die Leiterin des Jugendamtes, Dagmar Niederlein, in einem Elternbrief zu Beginn des neuen Kita-Jahres. Hoffnung, dass sich die Situation schnell bessert, macht sie den Eltern nicht. Es gehöre „zur Wahrheit“, dass es keine „einfachen und schnellen Lösungen“ gebe. Das Deutsche Jugendinstitut prognostiziere, dass der Betreuungsnotstand noch bis zum Jahr 2030 spürbar sei.
Stadt möchte Änderung im KiBiz erreichen
Mit mehr Auszubildenden will die Stadt gegensteuern. 259 Auszubildende gibt es aktuell allein in den 213 städtischen Kitas. Eine Änderung im KiBiz soll nach dem Willen der Stadt neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Sie möchte auf Landesebene erreichen, dass neben Fachkräften auch Ergänzungskräfte in der U3-Betreuung eingesetzt werden. Köln erfüllt die vom Rat beschlossene Betreuungsquote von 52 Prozent bei den Kleinsten nicht, rund 1500 Plätze fehlen.
Schlecht zu sprechen auf das KiBiz ist Pfarrer Mathias Bonhoeffer als Vertreter der Evangelischen Gemeinde Köln, die Träger des Familienzentrums Kartause ist. Die personelle Ausstattung, die das Gesetz vorsieht, sei viel zu gering. „Das reicht vorne und hinten nicht. Mit dem Personal können wir nicht familienergänzend arbeiten“, kritisiert er. Deshalb finanziert die Kirche aus eigenen Mitteln noch rund 1,5 Stelle zusätzlich im Familienzentrum Kartause. „KiBiz ist ein Kinderverwahrgesetz, eine große Mogelpackung“, schimpft Bonhoeffer. Wer - wie die Kartause - ein eingespieltes langjährige Team hat, kommt auf deutlich höhere Personalkosten als aufgrund der gesetzlichen Vorgaben erstattet werden.
Während ein Einstiegsgehalt für Erzieher um die 2800 Euro brutto liegt, wächst es mit den Berufsjahren immer weiter an. Bei der Berufswahl – und auch der -zufriedenheit – zählt für die Erzieherinnen aber etwas ganz anderes. „Es ist total nett, hier zu arbeiten. Es gibt keinen Alltagstrott. Ich könnte mir keinen anderen Beruf vorstellen“, sagt Jacqueline Pohl. „Ein Kind hat mich heute Papa genannt“, ergänzt Barbara Schaefer-Niche. Und strahlt.