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Geplantes Migrationsmuseum in Köln-KalkIn dieser KHD-Halle wurde Geschichte geschrieben

Lesezeit 5 Minuten
Mitat Özdemir (links) hat lange in der Halle gearbeitet, die er jetzt mit Ali Kemal Gün vom Verein Domid wieder betrat. Er kam mit 18 Jahren nach Köln.

Mitat Özdemir (links) hat lange in der Halle gearbeitet, die er jetzt mit Ali Kemal Gün vom Verein Domid wieder betrat. Er kam mit 18 Jahren nach Köln.

Die Zeit scheint stillzustehen in der riesigen Halle 70 auf dem ehemaligen KHD-Gelände. Ein ehemaliger Gastarbeiter, der mit 18 Jahren nach Köln kam, erzählt.

Wenn Mitat Özdemir seine Augen schließt, sieht er alles vor sich. Die glänzenden Kranbahnen in der Dachkonstruktion aus Stahl, die schweren Maschinenblöcke, grüne Eisenstangen im rechten Winkel zu den Ziegelsteinwänden. Wie schwebend am anderen Ende der Halle den azurblauen Container der Schichtleitung, 200 Meter weit weg, klein wie ein Spielzeug.

Der 76-Jährige steht am Tor der Halle 70, in der Menschen auf dem Kalker Areal von Klöckner Humboldt Deutz (KHD) Maschinenteile gefertigt haben. Es riecht nach Öl, Steinstaub, Metall. Die Wirkung der riesigen Halle ist atemberaubend, auch Özdemir braucht etwas Zeit. „Ende der 60er und in den 70er Jahren waren alle Arbeiter hier aus Jugoslawien, Griechenland, der Türkei“, sagt er dann. „Nur die Vorarbeiter waren Deutsche.“

An manchen Stellen dringt Wasser ein, dort wachsen Moos und Farne.

An manchen Stellen dringt Wasser ein, dort wachsen Moos und Farne.

Zehn Jahre lang hat er sich im Auftrag der KHD als Sozialbetreuer um die Belange von 3000 „Gastarbeitern“ gekümmert, die angeworben worden waren oder sich selbst aufgemacht hatten nach Deutschland, dessen wiedererstandene Industrie so dringend Arbeitskräfte brauchte. Özdemir kam mit 18 Jahren nach Köln, er stammt aus Anatolien. Dort hatte er eine Lehre als Dreher und Schweißer und den Abschluss der höheren Schule gemacht, er wollte in Deutschland Ingenieurwissenschaften studieren. Das hat er auch, später. Erst einmal stand er bei Ford am Band. Die beiden Handgriffe, die er dort ein Jahr lang Tag für Tag gemacht hat, hat er nie vergessen.

Das ist beinahe 60 Jahre her. Özdemir hat, wie Millionen von „Gastarbeitern“, die Geschichte Deutschlands mitgestaltet. Er ist zugleich auch Teil der Vergangenheit der Industriehalle, in der das erste deutsche Migrationsmuseum entstehen wird. Gestaltet vom Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (Domid), das 150 000 Zeitzeugnisse zusammengetragen hat. Sein Konzept, Migrationsgeschichte auch über die Lebensgeschichten von Menschen und mit ihrer kontinuierlichen Beteiligung aufzuzeigen, haben Land und Bund überzeugt – sie haben eine Fördersumme von 44,26 Millionen Euro zugesagt.

Ein Handwaschbecken wurde zurückgelassen.

Ein Handwaschbecken wurde zurückgelassen.

Noch scheint hier die Zeit still zu stehen. Auf dem Boden liegen Geröll, Glasscherben, Papierfetzen. Da wo einst die mannshohe, mehr als zehn Meter lange hydraulische Horizontal-Pressanlage stand, ragen verrostete Armierungseisen aus dem Beton, in der Mitte der 200 Meter langen und 45 Meter breiten Halle liegen Geröllbrocken wie Kunstwerke in rechteckigen Vertiefungen, den Fundamenten längst verschwundener Maschinen.

Ein Dienstplan von 2005 hängt an der Wand

Sie waren Arbeitsorte der Männer und Frauen, die Mitat Özdemir am Hauptbahnhof abgeholt hat. 200 Menschen seien oft auf einmal angekommen, erinnert er sich. Er und seine drei Kollegen brachten sie zu einer der 17 KHD-Baracken in der Siedlung am Poller Holzweg. 160 Menschen lebten in einer Baracke, in jedem Zimmer gab es sechs bis acht Schlafplätze in Etagenbetten, neben den Baracken einen Supermarkt für die Arbeiter und Arbeiterinnen. Özdemir erinnert sich, dass jede fünfte Arbeitskraft eine Frau war.

„Die Frauen aus Bosnien fuhren exzellent Gabelstapler, verdienten aber 20 Prozent weniger als die Männer“, sagt er. Beim Gang durch die Halle fällt Sonnenlicht durch die schrägen Glasraupen im Dach ins Innere. Wolkenschatten zeichnen sich ab auf dem rauen Beton, der Regen dringt an etlichen Stellen in die Halle. An einer ist in zwei Metern Tiefe ein Tümpel entstanden, daneben konkurrieren neongrüne Moose und Farne mit dem leuchtenden Rost einer Bodenplatte. Aus einem Kasten ragen zentimeterdicke Starkstromleitungen, mit sauberem Schnitt getrennt von den einst durch die Halle verlegten Kabeln. In einem Verhau stehen verstaubte Büromöbel, ein Dienstplan von 2005 hängt an der Wand. Milewski hatte im Februar zwei Wochen Urlaub. Auf einem Stundenzettel ist Kurzarbeit vermerkt. Das war 2016.

Anfang der 70er Jahre waren die Auftragsbücher noch übervoll, und Mitat Özdemir fürs Dolmetschen bei Einstellungen und für zehn Werkshallen zuständig. In die Halle 70 sei er nur nachmittags gegangen. „Vormittags hat es hier sehr gestunken, wegen der Kühlflüssigkeit“, erinnert er sich. Zu klären war immer Vieles, auch sprachliche Missverständnisse. „Und es war laut, die Arbeiter und ich, wir mussten fast immer brüllen.“ Die schweren Maschinen liefen ohne Pause.

Unsere Geschichte, die der Einwanderung, darf nicht in Vergessenheit geraten.
Mitat Özdemir

„Unsere Geschichte, die der Einwanderung, darf nicht in Vergessenheit geraten“, sagt der 76-Jährige. Fast 60 Jahre seines Lebens hat er in Köln verbracht, er hat neun Enkel. Mit dem Migrationsmuseum in der Industriehalle wird für ihn ein Traum wahr, den er seit 20 Jahren träumt. „Meine Urenkel können dann hier im Museum meine Stimme hören, sie werden sehen und verstehen, wie wir nach Deutschland gekommen sind. Und wie wir hier gelebt haben.“


Der Verein Domid lässt Menschen ihr Museum mitgestalten

1990 wurde der Vorläufer von „Domid“ in Essen von Menschen mit Migrationshintergrund gegründet. Sie wollten ihre Geschichte, „die weder in der historischen Wissenschaft noch in Museen besondere Aufmerksamkeit erhielt“, dokumentieren und öffentlich zugänglich machen.

In einer Garage war das erste Archiv des Vereins untergebracht, der 2007 mit dem Kölner Verein „Migrationsmuseum in Deutschland“ fusionierte. Heute umfasst das Dokumentationszentrum eine bundesweit einzigartige Sammlung an sozial-, alltags- und kulturgeschichtlichen Zeugnissen zur Geschichte der Migration in Deutschland. Vor kurzem hat Domid den Architekturwettbewerb für das Museum ausgeschrieben, das im Jahr 2029 eröffnet werden soll; die Halle wird Domid von der Stadt in Erbpacht überlassen.

Mit zwei Hosenbändern in rot-weiß wird die Flucht eines Mannes aus Syrien greifbar.

Mit zwei Hosenbändern in rot-weiß wird die Flucht eines Mannes aus Syrien greifbar.

„Fast 30 Prozent der Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund, sie oder einer ihrer Elternteile haben die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt erworben“, sagt Dr. Ali Kemal Gün, seit 2012 Mitglied des Domid-Vorstands. „Ihre Geschichte ist von Bedeutung. Und wir erzählen sie anders als andere Museen.“ Sie sei auch die Geschichte seines Bruders, der 38 Jahre bei Ford gearbeitet habe.

Mit zwei Hosenbändern in rot-weiß wird die Flucht eines Mannes aus Syrien greifbar. „Er hat sich seine Hosenbeine damit zugebunden, damit er seine Körperwärme nicht verliert auf seiner Flucht übers Meer“, schildert der Psychologische Psychotherapeut Dr. Gün.

Trinkwasser gab es nicht in den Zügen, die die ersten Gastarbeiter nach Deutschland brachten. Sie hatten es in Kanistern dabei.

Trinkwasser gab es nicht in den Zügen, die die ersten Gastarbeiter nach Deutschland brachten. Sie hatten es in Kanistern dabei.

Ein Fünf-Liter-Wasserkanister, den aus der Türkei angeworbenen Menschen bei ihrer viertägigen Reise dabei hatten, weil es in den Zügen kein Trinkwasser gab, soll ein Gefühl für die Zeit vermitteln. So wie die Tatsache, dass alle Menschen, die am Bahnhof München ankamen, eine Nummer erhielten. „Mit der wurden sie dann angesprochen“, sagt Gün. „Das weiß heute nur, wer es selbst erlebt hat.“