In der Rundschau-Reihe „Das andere Gespräch“ spricht die Kölner CDU-Bundestagsabgeordnete über ihre Familie, den Ruhr-Bergbau und die letzte Zechenfahrt ihres Vaters.
Interview mit Kölner Politikerin Serap Güler„Steinkohle ist der Grund, warum ich hier bin“
Frau Güler, woran denken Sie beim Stichwort Kohle?
Kohle ist ein ganz wichtiger Teil meiner Lebensgeschichte. Mein Vater war Bergmann, mein Bruder war Bergmann, und ich bin in einer Bergbausiedlung in Marl groß geworden. Ohne den Kohlebergbau wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Man kann sagen: Steinkohle ist der Grund, warum ich in Deutschland bin.
Sie sind 1980 in Marl geboren. Wieso kam ihre Familie aus der Türkei nach Deutschland?
Mein Vater Nail Celen hatte sechs Jahre als Bergmann in Zonguldak an der türkischen Schwarzmeerküste gearbeitet. Seit dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei aus dem Jahr 1961 wurden Fachkräfte wie er von Zechen im Ruhrgebiet gesucht. Sie zahlten sehr gutes Geld für die gleiche Arbeit. Davon konnten die Familien in der Türkei profitieren. Daher hat mein Großvater meinem Vater 1963 erlaubt, für sechs Monate in einer deutschen Zeche zu arbeiten.
Es sollte also nur eine kurze Station für ihn sein?
Ja. Mein Vater war der einzige Sohn meiner Großeltern, die fünf Töchter hatten. Deshalb wollte ihn mein Großvater nicht allzu lange in die Ferne ziehen lassen. Doch aus sechs Monaten wurden erst zwei Jahre und schließlich 58 Jahre.
Wie bei so vielen Menschen, die man damals Gastarbeiter nannte.
Genau. 1978 lernte mein Vater im Sommerurlaub in der Türkei meine Mutter Sevim kennen. Sie heirateten, und meine Mutter zog mit ihm nach Marl. Das war anfangs ein Schock für sie.
Warum?
Wir lebten ein paar hundert Meter von der Zeche Auguste Victoria entfernt, wo mein Papa damals arbeitete. Das war eine typische Bergbausiedlung, die Häuser waren alle grau angestrichen. Als meine Mutter hier ankam, hat sie meinen Vater gefragt, ob es in Deutschland keine bunte Farbe gebe. (lacht)
Was haben Sie als Kind vom Arbeitsalltag Ihres Vaters mitbekommen?
Nicht viel. Nur dass die Arbeit hart und anstrengend war. Mein Vater hat oft Überstunden gemacht. Wenn er nach Hause kam, war er meist sehr erschöpft und wollte schlafen. Daran erinnere ich mich gut. Ich habe ihn als Kind auch mal gefragt, ob er auf der Arbeit geschlagen wird, denn er hatte so dunkle Striemen auf der Haut. Doch das war tatsächlich Kohle, die beim Waschen nicht abging. Weil es unter Tage so heiß ist, haben die Bergleute manchmal mit freiem Oberkörper gearbeitet, wie es früher üblich war, und dann ging ihnen die Kohle buchstäblich unter die Haut.
Haben Sie den Zechenalltag selbst kennen gelernt?
Nur am Rande. Mit der Schule waren wir im Bergbau-Museum in Bochum, und meinen Girls’ Day in der 8. Klasse habe ich in der Zeche Auguste Victoria verbracht, allerdings nur über Tage. Genau genommen, wusste ich als Kind nicht viel über die Arbeit meines Vaters und seiner Kollegen. Das kam erst sehr viel später. Am 21. Dezember 2018 bin ich gemeinsam mit meinem Papa zum ersten Mal in eine Grube eingefahren.
Wie kam das?
Es war die letzte Schicht in der Zeche Prosper-Haniel in Bottrop. Damit endete offiziell der Steinkohlebergbau in Deutschland. Auf Einladung von Ministerpräsident Armin Laschet durfte ich mit einem Vater teilnehmen. Es war ein tolles Vater-Tochter-Erlebnis für uns. Er war aufgeregt und voller Nostalgie. Seine Augen leuchteten, als er mir alles erklärt hat. Ich dagegen dachte: Mein Gott, ist es hier dunkel, eng und staubig. Ich fand es beängstigend, aber er war dort unten in 1200 Metern Tiefe voll in seinem Element. Erst da wurde mir wirklich klar, was mein Vater über Jahrzehnte geleistet hat.
Serap Güler: „Habe meinen Vater sehr bewundert“
Seine Generation hat viel zum deutschen Wirtschaftswunder beigetragen.
Ich habe meinen Vater sehr bewundert. Er hat sich in fast 40 Jahren auf der Zeche nie beschwert, war keinen Tag krank. Er hatte dieses Pflichtbewusstsein, das viele Menschen der ersten Einwanderergeneration auszeichnet. Ihre Arbeit hätte mehr Wertschätzung verdient gehabt. Wir hatten einen kleinen Garten hinter dem Haus, und mein Vater hat am Wochenende ab und zu Kollegen zum Grillen eingeladen. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass er bei deutschen Kollegen eingeladen wurde.
Hat er sich schlecht behandelt gefühlt?
Nein. Er war ein ruhiger, pragmatischer Mensch. Die Arbeit war sein Leben, sie war ungemein wichtig und wertvoll für ihn. Es wäre für ihn unvorstellbar gewesen, zum Sozialamt zu gehen. Wenn er junge Leute sah, die tagsüber in der Teestube die Zeit totschlagen, wurde er wütend und sagte: Warum geht ihr nicht arbeiten? Rumsitzen war nichts für ihn, als Rentner fiel ihm die Decke auf den Kopf. Er hat dann noch bis ins hohe Alter als Gärtner gearbeitet, so lange es ging. 2021 ist er 82 Jahren an den Folgen einer Staublunge gestorben. Trotzdem war er stolz, Bergmann zu sein.
Heute ist Kohle bei vielen als Energieträger verpönt und der deutsche Steinkohlenbergbau Geschichte.
Seit Putins Angriff auf die Ukraine wären viele froh, wenn wir die eigene Steinkohle noch hätten. Natürlich muss sich die Technologie weiterentwickeln. Aber man darf nicht vergessen: Ohne Kohle und Stahl gäbe es nicht diesen Wohlstand in Deutschland. Erst dieser Wohlstand ermöglicht es der heutigen Jugend, sich auf das Thema Klimaschutz zu konzentrieren. In Spanien, wo 30 Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind, haben die jungen Leute andere Prioritäten.
Ist Kohle für Sie auch ein Stück Heimat?
Ja. In meinem Berliner Büro bewahre ich ein Stück Steinkohle auf. Das ist ein Symbol für mich. Es erdet einen und zeigt einem, wo man herkommt. Das ist mir wichtig.
Ihre Eltern waren sicher sehr glücklich, als Sie 2012 als erste Frau mit türkischen Wurzeln in den NRW-Landtag gewählt wurden?
Ja, sie saßen bei der konstituierenden Sitzung auf der Tribüne. Ein Fernsehteam hat meine Mutter damals gefragt, was sie empfinde. Sie sagte, sie sei wahnsinnig stolz. Später reiste ich nach Bartin in der Türkei, wo meine Verwandten leben. Dort angekommen, stürmte sofort ein Dutzend Pressefotografen und Kamerateams auf mich zu. Ich hatte gerade eine siebenstündige Busfahrt hinter mir und war nicht in der Stimmung für Interviews. Mein Vater stand dort und grinste. In diesem Moment war ich so sauer auf ihn! Aber er war bloß unheimlich stolz, dass seine Tochter es in ein deutsches Parlament geschafft hatte.
Zur Person
Serap Güler (42, CDU) wurde 2012 mit 31 Jahren in den NRW-Landtag gewählt. 2017 wurde sie im Kabinett von Ministerpräsident Armin Laschet Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration. Bei der Bundestagswahl 2021 zog sie über die Landesliste erstmals ins Berliner Parlament ein. Güler ist Mitglied im Verteidigungsausschuss und im Ausschuss für Inneres und Heimat. (fu)
Die Reihe „Das andere Gespräch“
Seit 19 Jahren gibt es die Sommer-Reihe „Das andere Gespräch“ in der Kölnischen Rundschau. Prominente dürfen das Thema wählen – solange es nicht um ihre Profession geht. Philosoph Richard David Precht redete 2009 über Goldfische.
Auch in diesem Jahr sind wieder zahlreiche Prominente dabei: Sänger Björn Heuser wird über Philosophie sprechen. Die Frontfrau von Kempes Feinest, Nici Kempermann, schwärmt fürs Boxen. Auch Kölns Wirtschaftsdezernent Andree Haack hat sich Zeit genommen für die traditionelle Reihe der Rundschau. Er wird ebenso zu Wort kommen wie FC-Trainer Steffen Baumgart und die immer noch berühmteste Feministin des Landes: Alice Schwarzer.