Im InterviewSchwuler aus dem Libanon spricht über seine Flucht nach Köln
- Ibrahim Willeke hat seine ehemalige Heimat Libanon und seine Familie verlassen
- Als homosexueller Mann verfolgt und gedemütigt, fand er in Köln die Liebe seines Lebens
Köln – Ibrahim Willeke trägt Schmuck, Piercings und schwarzen Nagellack. Für jemanden, der in seiner alten Heimat als Schwuler unterdrückt wurde, ist das nicht nur ein modisches Statement. Sondern ein Ausdruck von Freiheit.
Ihr Nachname klingt nicht besonders libanesisch. Wie kamen Sie zu ihm?
Willeke: 2019 habe ich hier in Köln meine große Liebe gefunden. Wir haben geheiratet, und ich habe seinen Familiennamen angenommen.
Warum haben Sie Ihren Namen Mokdad aufgegeben?
Ich habe meine Familie verlassen, ich gehöre nicht mehr dazu. Die Willekes sind meine neue Familie, und der neue Nachname steht auch für mein neues Leben hier in Deutschland.
Sie sind 2015 nach einer brutalen homophoben Attacke aus dem Libanon geflohen.
Ich bin 2014 über Grinder auf ein Fake Date hereingefallen. Dort warteten Männer auf mich, die mich verprügelt und aus dem dritten Stock geworfen haben. Ich hatte zahlreiche Brüche, war drei Monate im Krankenhaus und konnte ein Jahr nicht laufen. Danach habe ich entschieden, den Libanon zu verlassen.
Sie sind über die berühmt-berüchtigte Balkanroute geflohen. Was bedeutet das konkret?
Ich bin in die Türkei geflogen und dann mit einem Schlauchboot bis zur griechischen Insel Chios. Danach ging es auf verschiedenste Art weiter durch Mazedonien, Slowenien, Serbien, Österreich. Oft waren wir im Dunkeln unterwegs, und wir sind durch so tiefen Matsch gelaufen, dass wir Plastiktüten über die Schuhe ziehen mussten.
Auch auf der Flucht mussten Sie Ihr Schwulsein verheimlichen.
Ja, ich musste auf der Flucht meinen Fluchtgrund verbergen. Man merkt an den Gesprächen, den schwulenfeindlichen Witzen der anderen Flüchtlinge, dass man sich als Schwuler besser verleugnet. Also habe ich gelogen und behauptet, ich sei ein politisch Verfolgter.
Zur Person
1986 wurde Ibrahim Willeke in Beirut geboren. Nach dem Schulabschluss studierte er einige Semester Business-Management. 2014 wurde er Opfer eines brutalen homophoben Anschlags und floh über die Balkanroute nach Deutschland. 2016 gründete er die Selbsthilfegruppe Sofra Cologne, die sich für queere Flüchtlinge einsetzt.
2017 wurde ihm subsidiärer Schutz gewährt, außerdem erhielt er die offizielle Aufgabe, Fälle von Gewalt gegen LSBTIQ-Flüchtlinge in NRW zu dokumentieren. 2020 wurde aus SOFRA – Queer Migrants ein eingetragener Verein. Im selben Jahr heiratete Ibrahim einen deutschen Mann und legte seinen Geburtsnamen Mokdad ab und übernahm den Namen seines Mannes. Sofra wird vom Land NRW finanziell unterstützt und erhielt 2021 den Ehrenamtspreis „Köln engagiert“. Ibrahim Willeke wohnt in Lindenthal.
Die Menschen halten in solcher Not nicht zusammen?
Eine syrische Familie hat mir an den Grenzen geholfen – als Libanese wirst du manchmal auch zurückgeschickt.
Gab es auch glückliche Momente auf der Flucht?
Am glücklichsten war ich, als die Fähre landete. Ich bin auf den Strand gesunken und habe geweint. Nicht zuletzt, weil ich nicht schwimmen kann und große Angst vor der Überfahrt hatte. Ich dachte immer, ich könnte auf dem Meer sterben, aber gut, im Libanon habe ich mich lebendig tot gefühlt.
Wollten Sie von Anfang an nach Köln?
Überhaupt nicht. Ich habe recherchiert, wo es die liberalsten Schwulengesetze gibt, und wollte dann in die Niederlande. Aber am Flughafen in Köln hatte ich Morbus Crohn und war so schwach, dass man mich sofort ins Krankenhaus gebracht hat.
Und warum blieben Sie danach hier?
Ich habe der Ärztin von meinen Plänen erzählt, und sie meinte: Köln ist die beste Stadt für Schwule, bleib hier. Dass ich mich erstmals zu meiner Sexualität bekennen konnte, hat mir eine große Ruhe und Entlastung beschert.
Köln gilt als deutsche Homosexuellenhauptstadt. Merkt man das als Neuling?
Ich kannte niemanden und konnte kein Deutsch. Aber die Ärztin hat sich weiter um mich gekümmert, wir sind bis heute befreundet. Sie hat mir gesagt, wo ich hingehen kann, und mir zum Beispiel die Szene an der Schaafenstraße gezeigt.
Ist der CSD karnevalistisch oder politisch?
Das ist eine politische Bewegung, deren heutiger Ruf mich ein bisschen traurig macht. Es geht eben nicht nur ums Feiern, sondern um die Rechte von sexuellen Minderheiten. Wir gehen weiterhin vor allem auf die Straße, um unsere Forderungen nach Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung sichtbar zu machen. Wir feiern, aber wir feiern unsere Freiheit!
War die Entscheidung, in Köln zu bleiben, letztlich richtig?
Unbedingt. Ich fühle mich hier zuhause, und wenn ich unterwegs bin, kann ich es kaum erwarten, wieder nach Köln zu kommen. Dieses Gefühl von Angstfreiheit, Sicherheit und Stabilität bedeutet mir nach meinen Erfahrungen sehr viel. Ich möchte hier mein Leben und meine Liebe leben.
Haben Sie einen Lieblingsort?
Ich mag meinen Stadtteil Lindenthal, weil man dort Ruhe findet und raus aus dem Trubel der Innenstadt ist. Wenn ich runterkommen will, gehe ich in den Tierpark. Das hilft immer.
Sind Sie durch Ihre Heirat Deutscher geworden?
Ja, aber ich habe natürlich nicht deswegen geheiratet. Ich bin seit sechs Jahren hier, arbeite seit fünf Jahren und bezahle Sozialversicherung. Außerdem engagiere ich mich sozial und politisch, indem ich einen Verein für Flüchtlinge gegründet habe und Empowermentarbeit leiste. Mittlerweile bin ich auch Beratendes Mitglied im Integrationsrat der Stadt und Mitglied der Stadtarbeitsgemeinschaft Lesben, Schwule und Transgender. Also ich denke, ich habe mir meinen deutschen Pass verdient.
Okay, machen wir trotzdem einen Deutschland-Test: Kölsch, Alt oder Pils?
Kölsch.
Das war einfach. Fußball, Handball oder Hockey?
Fußball. Ich spiele selbst nicht Fußball, aber ich liebe die Stimmung, die Energie, die beim Zuschauen entsteht.
Leberwurst, Fleischwurst oder Salami?
(lacht) Nichts davon, tut mir leid.
2016 haben Sie die Hilfsorganisation Sofra für LSBTIQ-Flüchtlinge gegründet. Was brauchen die Leute zunächst?
Sie brauchen Kontakte. Wir organisieren Notschlafplätze und Vernetzungstreffen, aber auch finanzielle Hilfen für Beratungen oder Anwälte.
Zu Ihnen kommen nicht nur schwule Männer aus dem Libanon, nehme ich an.
Nach sechs Jahren Aufbauarbeit haben wir inzwischen ein sehr diverses, internationales Team von Ehrenamtlern aufgebaut. Dementsprechend kommen zu uns alle Nationalitäten, von Indien bis Afrika.
Warum der Name Sofra, der auf Arabisch „Esstisch“ bedeutet?
Ich habe nach meiner eigenen Flucht Fälle von Gewalt in Flüchtlingsunterkünften dokumentiert. Die Betroffenen habe ich zum Abendessen außerhalb des Heims eingeladen. Am Esstisch teilt man seine Bedürfnisse und Erfahrungen, man sitzt zusammen. Sofra hat im übrigen die gleiche Bedeutung auf Arabisch, Persisch und Türkisch – das versteht also fast jeder.
Wie kommen die LSBTIQ-Bewegungen in islamischen Ländern voran?
In Ländern wie Katar, Iran oder Saudi-Arabien geht gar nichts, da steht auf Schwulsein die Todesstrafe. In Ägypten, Jordanien, Libanon, Marokko oder Algerien geht es deutlich liberaler zu. Mit Kölns Partnerstadt Tunis in Tunesien existiert sogar ein Austauschprogramm in Sachen LSBTIQ.
Sie sprechen inzwischen recht fließend Deutsch. War es mehr Spaß oder Stress, diese Sprache zu lernen?
(lacht) Oh, es war Stress! Meine Muttersprache ist Arabisch, ich spreche auch Englisch. Aber ich sage jedem, der hier neu ankommt: Deutsch zu lernen, die Sprache zu beherrschen, ist der Schlüssel zu allem anderen! Wer hier wirklich ankommen will, wer kommunizieren und Menschen kennenlernen möchte, muss Deutsch lernen.
Wie soll sich Sofra in den nächsten Jahren entwickeln?
Es soll ein erfolgreicher Verein für queere Geflüchtete werden. Wir haben in Köln mit der Arbeit begonnen und sie auf NRW ausgeweitet. Wir versuchen aber nun auch auf EU-Ebene voran zu kommen, Vernetzung herzustellen und Antidiskriminierungsarbeit zu leisten.