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Holocaust-Überlebende in SchuleWarum 200 Kölner Kinder mucksmäuschenstill wurden

Lesezeit 5 Minuten
Eine Frau mit einem Davidstern in der Hand steht auf einer Bühne vor Kindern.

Zeitzeugin Rozette Kats in der Kaiserin-Augusta-Schule.

Rund 70 Jahre liegen zwischen der Erzählerin und ihrem Publikum. Das das hing gebannt an ihren Lippen.

Der Geräuschpegel in der vollbesetzten Aula der Kaiserin-Augusta-Schule ist ohrenbetäubend. Mehr als 200 Sechstklässler reden durcheinander. Auch das benachbarte Friedrich-Wilhelm-Gymnasium hat die gesamte Stufe sechs geschickt. Um kurz nach 10 Uhr ergreift die jüngere der beiden Frauen auf der Bühne das Wort. „Ich bin Johanna und die Mutter von Irma“, erklärt Journalistin Johanna Herzing. Die Frau neben ihr ist Rozette Kats, Jüdin aus Amsterdam und Überlebende des Holocausts. Nach einem Beitrag über sie hat Herzing ihrer Tochter viel über sie erzählt - und die Tochter, die in die fünfte Klasse geht, hatte die Idee, die 82-Jährige doch auch in ihrer Schule sprechen zu lassen.

„Wir hatten erst ein wenig Bedenken, weil die Kinder noch jung sind“, erklärt David Neumann, stellvertretender Schulleiter und Geschichtslehrer. Doch dann habe man sich entschlossen, im Geschichtsunterricht vorzubereiten und auch nachzubereiten. Nur eine Handvoll Fünftklässler, die für die Schulzeitung berichten, darf dabei sein.

„Ich bin nicht dein Vater und Mama ist auch nicht deine Mutter und du heißt auch nicht Rita.“ Das habe ihr der vermeintliche Vater am Abend vor ihrem sechsten Geburtstag im Mai 1848 gesagt. Rozette Kats startet mit diesem für sie schockierenden und zutiefst verunsichernden Ereignis. Und bereits jetzt spricht keines der Kinder im Publikum mehr. Die Jungen und Mädchen hängen an den Lippen der Frau mit der sanften, eher leisen Stimme.

Kats erzählt - mit leichtem niederländischen Akzent - verständlich, detailreich, eindringlich und sehr persönlich. Sie erzählt, wie in ihrer Pflegefamilie nach der Eröffnung der Wahrheit nie mehr über ihre jüdische Herkunft gesprochen wurde. Und auch nicht darüber, was mit ihren Eltern passiert war. Sie berichtet, was die Verunsicherung bei ihr anrichtete. „Was ist jüdisch?“, fragte sich das Kind. Und war sicher: „Etwas, woran man stirbt.“

„Was ist jüdisch?“, fragte sich das Kind. Und war sicher: „Etwas, woran man stirbt.“

„Ich hatte Angst, wurde ganz lieb und gehorsam“, erinnert sie sich. Ängstlich, angepasst und sich selbst vollkommen fremd. Sie habe alles, was ihr Angst machte, in eine Art „inneren Eimer“ gesteckt. „Wörter wie Familie, Tod, Jude.“ Und sie wagte sich nicht, nachzufragen.

Den Schrecken totgeschwiegen

„Als ich etwa euer Alter war, habe ich mich zum ersten Mal getraut, meinen Onkel nach meiner Mutter zu fragen.“ Doch der Onkel antwortet nicht. In dem Jahr nicht und auch nicht in den ganzen folgenden. Rita, wie sie sich weiterhin nennt, bleibt im Ungewissen. „Als ich 18 Jahre alt war, geschah etwas Besonderes.“ Ihre Pflegemutter übergibt ihr eine kaputte Uhr und zwei Goldringe. Schmuck, den ein Geflohener aus dem Lager, in das ihre Eltern gebracht worden waren, den Pflegeeltern gegeben hatte.

Rozette Kats hebt ihren Arm mit der alten Uhr - und sie zeigt den Davidstern-Anhänger, den sie sich aus dem Ring hat anfertigen lassen. Sie hat vieles mitgebracht: Vergrößerungen von Fotos ihrer Familie, Baby- und Kinderfotos, Dokumente, einen „Judenstern“. Sie erzählt ihre Familiengeschichte und berichtet über den Einfluss der Nazis in den besetzen Niederlanden.

Die Kinder gehen mit

„Das Leben wurde sehr schwierig. Es war so erniedrigend“, sagt sie. „Das war Mobbing“, rufen gleich mehrere Schülerinnen und Schüler als Kats nach einem Wort sucht für das Gefühl. Ihre Eltern verstecken sich mit dem Baby mal hier mal dort. „Wir helfen euch, aber nicht so lange, sagten viele Leute. Warum wohl?“, will Kats wissen. Die Kinder gehen mit, liefern alle möglichen Argumente. Die Angst vor Strafe, die Angst, dass das Baby schreit.

Alles richtig. Aber richtig tückisch waren die Stoffwindeln. An ihrem alten Teddy hat Kats eine mitgebracht. Windeln waschen und trocknen, machte das Verstecken besonders kompliziert. „Sieben und einen halben Gulden gab es für jeden, der einen versteckten Juden verriet.“

Mit achteinhalb Monaten wird Rozette von ihren Eltern im Kinderwagen zu ihren Pflegeeltern gebracht. Die Eltern kommen ins Lager, dort wird noch ein Bruder geboren. Nach ein paar Monaten der Transport nach Auschwitz. Der Vater wird noch rund vier Monate im Kriegsdienst geknechtet bevor er stirbt. Mutter und Baby werden einen Tag nach der Ankunft in Auschwitz vergast.

All das weiß Rozette Kats noch gar nicht so lange. Die Verbrechen und Tragödien waren lange ein Tabu. Auch kurz vor seinem Tod sprach der Onkel nicht darüber. Verschlossen in einem Schrank in einer Ledertasche lagen einige wenige Dokumente. Doch diese Tasche war erst einmal verschwunden. Mit etwa 45 erleidet Kats, die sich immer noch Rita nennt, einen Zusammenbruch. Wenn man nicht wisse, wer man ist und sich immer verstelle, mache das krank, sagt sie „Eine Therapeutin war meine Rettung.“

Man muss sich kennen, das ist der Grund, warum ich meine Geschichte erzähle."

„Ich kannte meine Identität nicht“, resümiert Kats. „Man muss sich kennen, das ist der Grund, warum ich meine Geschichte erzähle." Ihre Botschaft soll sein: Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch keinem anderen zu. „Ich will, dass die Kinder Empathie entwickeln“, sagt sie.

Nach dem mehr als einstündigen Vortrag mit eingestreuten Fragen der Kinder, ist Lehrer Neumann baff. „Offensichtlich gibt es Möglichkeiten, Kinder zu berühren“, stellt er fest. Die gefesselten Zuhörer sind in begeisterten Applaus explodiert. „Es war sehr spannend. Sie hat überwältigend erzählt“, sagt Hanna (11) während sich die Meute, jetzt wieder laut, aus den Türen der Aula in die Pause drängt.