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Höhenberger LynchmordHaftbefehl gegen Verdächtigen aufgehoben

Lesezeit 3 Minuten
Schule und Kleidungsstücke liegen nach dem brutalen Überfall auf der Straße.

Ermittler am Tatort auf der Bamberger Straße

Im März 2022 wurde ein Mann in Köln-Höhenberg von einer Gruppe aus dem Auto gezerrt und getötet. Nun ist der Haftbefehl gegen einen Verdächtigen aufgehoben worden.

Es ist ein Verbrechen, bei dem einem der Atem stockt: Am 10. März 2022 lauert eine Gruppe Männer einem 37-Jährigen auf, umzingelt ihn und schlägt und tritt schließlich auf ihn ein — dabei kommen auch ein Messer und ein Hammer zum Einsatz. Nach zirka einer Minute bleibt das Opfer reglos auf der Kreuzung Miltenberger Straße/Bambergerstraße in Höhenberg liegen und stirbt einige Tage später in einem Krankenhaus.

Keine strafbare Handlung zu erkennen

Hintergrund der Tat ist laut Anklage ein Schmähvideo aus der Nacht zuvor. Darin soll der Bruder des Opfers die lebenden und toten Mitglieder jener Großfamilie beleidigen und bedrohen, aus der die Täter stammen sollen. Daraufhin soll das Familienoberhaupt eine „angemessene Reaktion“ gefordert haben. Da der eigentliche Urheber des Schmäh-Videos nicht greifbar war, soll die Tätergruppe stellvertretend dessen völlig unbeteiligten Bruder zum Ziel ihrer Rache auserkoren haben. So jedenfalls lautet die Version der Staatsanwaltschaft, die sich unter anderem auf ein Überwachungsvideo stützt, auf dem die Tat aufgezeichnet wurde.

Die Behörde führt 36 Beschuldigte in dem Verfahren wegen gemeinschaftlichen Mordes, von denen eine Großzahl als identifiziert gilt, und die sämtlich mit internationalem Haftbefehl gesucht wurden. Doch nun hat die 20. Große Strafkammer am Landgericht unter Vorsitz von Sibylle Grassmann einen Haftbefehl gegen einen Beschuldigten aufgehoben. Landgerichtssprecher Prof. Jan F. Orth sagte am Freitag auf Nachfrage, dass die Kammer dem Mann „keine konkrete Unterstützungshandlung bei der Tat nachweisen“ könne, somit kein dringender Tatverdacht mehr bestehe. Zwar soll sich der Beschuldigte ausweislich des Videos vor und zur Tatzeit am Tatort aufgehalten haben. Er soll sich aber an keiner konkreten Tathandlung — durch Schläge oder Tritte — beteiligt haben. Zudem soll die Kammer laut Rundschau-Informationen in Zweifel ziehen, dass der Beschuldigte überhaupt korrekt identifiziert wurde. Demnach wird bemängelt, dass es kein wissenschaftliches Gutachten hierzu gebe. Die mutmaßliche Identifizierung beruhe allein auf den Angaben von Polizisten, die den Verdächtigen angeblich aus früheren Verfahren kennen sollen. Verteidiger Christian Kemperdick, der den Beschluss für seinen Mandanten erwirkte, sagte über die Entscheidung: „Die Kammer hat unter Berücksichtigung der Akte allein das Gesetz angewendet.“

Verschiedene Strafkammern bewerten unterschiedlich

Kompliziert wird die Sache jetzt dadurch, dass verschiedene Große Strafkammern am Landgericht ähnliches Verhalten verschiedener Akteure völlig unterschiedlich bewerten. Während im gerade geschilderten Fall kein dringender Tatverdacht mehr besteht und der Haftbefehl aufgehoben wurde, muss sich seit November vergangenen Jahres ein 31 Jahre alter Angeklagter wegen mittäterschaftlichen Mordes vor der 11. Großen Strafkammer unter Vorsitz von Sabine Kretzschmar einem Prozess stellen. Laut Video und Anklageschrift soll auch der 31-Jährige vor Ort gewesen sein, aber ebenfalls keine konkrete Tathandlung — wie Tritte oder Schläge — begangen haben.

Mit der Entscheidung der 20. Großen von der Rundschau konfrontiert sagte Abdou Gabbar, Verteidiger des 31-Jährigen im Prozess vor der 11. Großen Strafkammer: „Als Verteidiger in einem Mordverfahren wundere ich mich, nicht von der Staatsanwaltschaft Köln oder dem entscheidenden Gericht, sondern zufällig von der Presse verfahrensrelevante Tatsachen zu erfahren — nämlich, dass eine andere Kammer desselben Gerichts in dem Verhalten eines weiteren mutmaßlichen Mittäters nicht einmal strafbares Verhalten erkennen kann.“ Die Staatsanwaltschaft wollte den aufgehobenen Haftbefehl nicht kommentieren. Behördensprecher Ulrich Bremer teilte aber mit, dass die Staatsanwaltschaft prüfe, Rechtsmittel einzulegen.