Die Gamescom liegt dem Gamer sehr am Herzen. Hier hat er schließlich auch seine Leidenschaft für das Cosplay entdeckt. Jedes Jahr sei sie außerdem ein Ort, an dem sich die ganze Community trifft.
Professioneller NerdEin Cosplayer gibt auf der Gamescom Einblicke in seine Welt
„Ich bin der Typ mit den blauen Haaren und der komplett pinken Krankenschwester im Schlepptau“, gibt Kris sich mit einer Nachricht zu erkennen. Als ihn die Bahn mit dutzenden weiteren Gamescom-Gästen vor einem Messeeingang ausspuckt, läuft neben ihm tatsächlich eine schlanke, große Frau im rosa Kostüm und mit Perücke. Kris verliert keine Zeit und führt sie im Eilschritt an der meterlangen Schlage vorbei, die sich bereits kurz nach dem Einlassstart gebildet hat. Er ist heute nicht zum Spaß, sondern genau wie seine Mitstreiterin beruflich da. Die Cosplayerin mit dem Künstlernamen Tingilya muss schnell zu einem Stand, dessen Aussteller sie gebucht hat. Sechs Stunden lang wird sie mit strahlendem Lächeln in ihrem Krankenschwester-Kostüm davor stehen, um neugierige Menschen für ein Computerspiel zu begeistern. Kris ist dabei so etwas wie ihr Assistent. Längst hat sich eine professionelle Branche um die Cosplay-Szene entwickelt.
Bereits der erste Publikumstag der Gamescom zieht so viele Gäste an, dass man sich teils nur mit kleinen Schritten und Schulter an Schulter durch die Menge bewegen kann. Rund 320.000 Gaming-Fans zog die Messe im vergangenen Jahr an, mindestens genauso viele werden laut einem Sprecher der Gamescom auch in diesem Jahr erwartet.
Während die abgedunkelte Halle mit den hunderten blinkenden Ständen für die einen wie ein endloses Labyrinth wirkt, ist die Gamescom für Kris ein Stück Heimat. Mühelos leitet er Tingilya durch die bunte Menge über Rolltreppen und um Ecken bis zu ihrem Ziel. Die Menschenmenge am ersten Publikumstag sei noch gar nichts, am Wochenende werde es nochmals deutlich voller, sagt er stoisch. Seit über zehn Jahren besucht der 25-jährige Kölner die Messe. Früher war er selbst im Kostüm unterwegs, heute flitzt er in schwarzer Hose und schwarzem Top durch die Gänge.
Cosplayer machen Werbung
Keine drei Minuten kann Tingilya nach ihrer Ankunft, dem Stand des eher kleineren Studios durchatmen, bis die ersten Gäste ein Foto mit ihr machen. Cosplayer zu engagieren sei eine beliebte und effektive Art, Werbung für ein Spiel zu machen, erklärt Kris, als er der Darstellerin das Herzstück des Kostüms behutsam in die Arme legt: Eine rosa Figur in Form eines Axolotls, wie sie auch in dem Computerspiel des Auftraggebers vorkommt. Das Tierchen, so groß wie ein Baby, habe das Team erst mit dem 3D-Drucker hergestellt und dann wochenlang in Handarbeit abgeschliffen und bemalt, sagt er. Da hören sich die zwei Tage Arbeit für das selbstgeschneiderte Krankenschwester-Kostüm fast nach wenig an. Zwischen 6000 und 12.000 Euro seien die Kunstwerke wert, erklärt Kris.
Tingilya ist seine Chefin und hat ihr Hobby zum Beruf gemacht. Ihre Firma „Immersive Productions“ stellt Kostüme selbst her und vermittelt passende Darsteller. Auch für die Paraden in Deutschlands größtem Freizeitpark, dem Europapark Rust, stattet das Team Darsteller aus.
„Beim Cosplay geht es für mich weniger darum, zu einer anderen Person zu werden“, erklärt Kris den Reiz an seiner Leidenschaft. „Es geht eher um die Herausforderung, anspruchsvolle Kostüme ins wahre Leben zu holen.“ An seinem ersten Kostüm habe er mehrere Tage hochkonzentriert genäht. Dann von hunderten Leuten nach Fotos gefragt zu werden, sei ein unglaubliches Gefühl. Auf der Straße müsse er sich manchmal noch Sprüche wie: „Ist denn schon wieder Karneval?!“ anhören. Die Gamescom sei hingegen ein sicherer Ort, um seine Leidenschaft zu zeigen.
Die Publikumsmagnete der Gamescom warten in den benachbarten Hallen. Dort stellen die ganz großen Entwickler ihre Spiele vor. Aufwendig wurden die Stände hier in Spielewelten verwandelt. Fans streifen durch einen mittelalterlichen Markt, Tempel, japanische Dörfer oder vorbei an Monstern. Experten unter den Fans sind leicht an den Campingstühlen zu erkennen, mit denen sie in der Schlange sitzen. Auch in der Menge sind viele Menschen im Kostüm. Japanische Prinzessinnen quetschen sich an Ninjas und blutverschmierten Soldaten vorbei.
Von dem Spektakel in den Haupthallen ist Kris wenig beeindruckt, „angezockt“ habe er schon lange kein Spiel mehr. „Die Gamescom hat sich früher mal als Festival vermarktet. In den letzten Jahren entwickelt es sich leider davon weg“, bemängelt er. Statt der Gamer-Gemeinschaft mit vielen Partys, Bühnen und einem breiten Rahmenprogramm etwas zurückzugeben, gehe es heute oft nur noch darum, Spiele zu präsentieren. „Man hat das Gefühl, es geht mehr darum, Kommerz zu betreiben und weniger um die Community.“
Ein Nerd, der Klischees abbauen will
Kris sitzt in einem der Höfe zwischen den Hallen und macht eine Pause. Hunderte andere sitzen hier auf dem Boden, teils auf mitgebrachten Handtüchern oder den bewährten Campingstühlen. Auch in den Hallen und auf den Fluren kauern die Leute massenhaft auf dem Boden. „Bänke aufzustellen, würde eben Geld kosten“, sagt Kris mit einem Augenzwinkern. Die Gamescom liegt ihm trotzdem sehr am Herzen. Hier hat er schließlich auch seine Leidenschaft für das Cosplay entdeckt. Jedes Jahr sei sie außerdem ein Ort, an dem sich die ganze Community trifft. „Die Gamescom steht für mich vor allem für das Miteinander.“
Ein Fan unterbricht ihn und Kris posiert geduldig für ein Foto. Das passiere ihm immer öfter. Denn Kris ist seit seiner Teilnahme in der aktuellen Staffel der TV-Serie „Beauty and the Nerd“ ein kleiner Star. Vor allem auf der Plattform Twitch, die fest mit der Gaming-Szene verwachsen ist, sei die Serie sehr beliebt.
Kris ist das, was man einen Nerd nennen kann. Das macht er manchmal auch selbst, eine Beleidigung ist das für ihn nicht. Seit rund 15 Jahren zockt er, teils auch professionell. Fast genauso lange ist er Cosplayer. Und: Er weiß alles über Achterbahnen. „Sobald du ein besonderes Interesse hast, über das du mehr weißt, als der Durchschnitt, kannst du dich Nerd nennen.“ In eine Schublade des unbeholfenen Nerds passt der selbstbewusste Kölner aber nicht. „Ich bin nicht der introvertierte Typ, der nicht mit Frauen reden kann“, sagt er schmunzelnd.
Dass Menschen wie Kris, wegen ihren Interessen abgestempelt und ausgegrenzt werden, passiere immer seltener. „Langsam kommt ein Verständnis auf, das Leute mehr als eine Dimension haben können.“
Kris hat immer an seiner Einzigartigkeit festgehalten. Schließlich liege darin eine große Kraft: „Das Schöne am Nerdsein ist, dass das Leben nicht langweilig wird.“ Ein Alltag zwischen Arbeitsplatz und Fernsehen wäre nichts für ihn.