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Interview

Diakonisches Werk feiert 100.
„Wir müssen eindeutig Stellung beziehen“

Lesezeit 6 Minuten
Martina Schoenhals über das Diakonische Werk.

Martina Schönhals spricht über das Diakonische Werk.

Das Diakonische Werk Köln feiert seinen hundertsten Gründungstag und sieht sich trotz Finanzkürzungen den wachsenden sozialen Krisen engagiert gegenüber.

Vor 100 Jahren sprach man noch von „freier Liebestätigkeit“, heute heißt der Leitgedanke „Nächstenliebe leben!“. Da wird deutlich, wie lange die Gründung der Diakonie zurückliegt. Verblüffend ist, wie sehr sich die Hilfebedarfe ähneln: Armut, Rückzug des Staates, Hilfe für Gefährdete.

Ja, das sind heute wesentliche Schwerpunkte. Wieder. Dazwischen lagen ruhigere Jahrzehnte, in denen die Angebote in unserem Sozialstaat nicht von finanziellen Kürzungen bedroht waren. Unsere Schuldnerberatung hat lange Wartelisten, die Zahl der wohnungslosen und die der psychisch beeinträchtigten Menschen steigt.

Dazu nimmt die Diakonie eine Aufgabe so stark wahr wie wohl noch nie. Sie zeigen Flagge, etwa zum ersten Mal beim CSD...

... und beim Come-Together-Cup, auch da waren wir erstmals dabei. An unserem Infostand bei dem für alle offenen, bunten Fußballturnier haben wir sehr viele positive Rückmeldungen bekommen dafür, dass wir als kirchliche Institution so klar Stellung beziehen.

Sich stärker gesellschaftspolitisch zu positionieren ist ja aktuell Haltung und Zukunftsvorsatz. Wo passiert das schon?

Wir sind sehr aktiv gegen rechts. Und für einen humane Flüchtlingspolitik. In beiden Feldern waren wir bei allen Demonstrationen der letzten Zeit mit Fahnen und Plakaten als Diakonie dabei. Gerade jetzt ist wichtig, dass wir zeigen, wir sind die Mehrheit. Die Initiative gegen die Bezahlkarte machen wir gemeinsam mit Flüchtlingsrat und Caritas.

Der Gedanke „Wo ist die Not, was können wir tun?“ war ja schon immer die Leitschnur der Diakonie. Etwa bei der Trinkerfürsorge in der 1920er und 30er Jahren...

Das Problem wurde akut, weil in dieser Zeit der Alkohol günstiger wurde. Auch arme Menschen konnten sich Alkohol leisten, und für nicht wenige wurde er zum Problem. Aktuelle Beispiele sind die Hochwasserberatung und die Beratung für Geflüchtete aus der Ukraine, die besondere Handicaps haben.

Ein weiterer Schwerpunkt bis heute ist in den 1960er Jahren begründet. Ihr Engagement für Kinder, gemäß dem Luther-Satz „Wer ein Kind sieht, hat Gott auf frischer Tat ertappt“. Die Hälfte Ihrer Kitas sind Familienzentren in Sozialen Brennpunkten. Eine bewusste Entscheidung?

Vor etwa 60 Jahren haben wir in Übergangswohnhäusern, die die Stadt für Obdachlose eingerichtet hat, sozialarbeiterisch gearbeitet. Dort waren - wie heute noch - auch Familien untergebracht. Wir haben da Spielstuben für Kinder und Jugendliche eingerichtet, das waren die Vorläufer dieser Kitas.

Über Jahrzehnte waren die Probleme konkreter umrissen, jetzt sind die Menschen mit globalen Krisen konfrontiert: Klimakatastrophen, Corona, Kriege. Wie bekommt man das bewältigt?

Indem wir weitermachen. Mit Respekt für alle Menschen und mit Achtung für ihre Menschenwürde. Die Krisen belasten auch unsere Mitarbeitenden persönlich; dazu kommt die existenzielle Unsicherheit wegen der drohenden Kürzungen. Wir versuchen unseren Mitarbeitenden zu helfen, eine gewissen Krisen-Resilienz zu entwickeln. Wir sind sehr flexibel in Teilzeit und mobilem Arbeiten und versuchen, alle so auszustatten, dass sie auch zu Hause gut arbeiten können.

Was fällt weg, wenn weniger Geld da ist?

Dann werden wir Angebote schließen müssen. Und andere müssen wir einschränken. Der kommunale Haushalt soll im Oktober entschieden und muss dann genehmigt werden. Gewissheit werden wir wohl erst im Frühjahr haben. Auch von Land und Bund werden wir absehbar weniger Geld bekommen.

Und die Kirchensteuern brechen weg. Wie finanzieren Sie Ihre Angebote derzeit?

Die Kirchensteuern machen nur etwa fünf Prozent unseres Budgets aus. Pflichtige Hilfen zur Erziehung und Seniorenberatung zahlt die Stadt, aber in vielen Bereiche bringen wir mindestens zehn Prozent Eigenanteil mit. Bei der landesfinanzierten Geflüchteten-Beratung bringen wir bis zu 30 Prozent ein. Sie ist Teil unsers Selbstverständnisses, für wirklich alle Menschen da zu sein. Auch bei den Kitas tragen wir acht Prozent; Köln ist eine der wenigen Kommunen, die das einfordert. Und wir bemühen uns ständig um Bundes- und EU-Mittel.

Gehen Sie neue Wege, um Menschen für Ihre Arbeit zu begeistern?

Wir wollen sie einladen, mit uns die Zukunft positiv zu gestalten - ehrenamtlich oder durch finanzielle Unterstützung. Deshalb veranstalten wir am 1. Oktober unseren ersten Zukunftstag. Gerhart Baum (ehemaliger Innenminister, Anm. d. Reaktion) ist unser Schirmherr. Er steht für Demokratie, den Einsatz gegen rechts, für Freiheit in Verantwortung. Und er lebt in der Südstadt, hat also kurze Wege (lacht). Dabei werden Praktiker die drei Schwerpunkte dieses Jahres vorstellen - Migration/Integration, Wohnungslosenhilfe und Sozialpsychiatrie, es gibt Infostände zum Stiften und Vererben und eine Podiumsdiskussion.

Und Sie planen den Podcast „Sozial banal“. Obwohl das Soziale ja alles andere als banal ist...

Er soll eine Leichtigkeit in die Idee sozialer Arbeit bringen. Wir wollen Menschen zusammenbringen, sich nicht kennen. Und Inhalte unserer Arbeit nach draußen tragen; viele Menschen wissen ja gar nicht, was soziale Arbeit ist. Dabei werden sich Mitarbeitende aus verschiedenen Bereichen treffen, die vielleicht ganz gegensätzlich sind. Ein jüngerer Suchtberater mit kleinen Kindern, der auf seine Work-Life-Balance achtet, und eine ältere Sozialarbeiterin. Wir steigen mit kurzen Fragen ein wie „Meer oder Berge“, dann wird der Arbeitstag vorgestellt und gefragt, was motiviert, was Sinn gibt und Kraft. Am Ende heißt es „Pizza oder Pasta“ und alle gehen zum Italiener. In dieser Woche beginnen die Gespräche, zu hören sind sie ab Mitte September alle zwei Wochen über einen Link auf unserer Internetseite.

Relativ neu ist auch die gemeindenahe Diakonie. Was ist das?

Die Gemeinden haben großartige Gebäude und nutzen sie teils nicht. Marina von Ameln macht die gemeindenahe Diakonie. Sie ist freigestellte Pfarrerin und entwickelt mit den Gemeinden neue Nutzungsideen. In der Nippeser Yorckstraße etwa mieten wir das Erdgeschoss von der evangelischen Kirchengemeinde, hier bringen wir drei barrierefreie Beratungsbüros unter, die jetzt noch in Nippes verteilt sind. Und zusätzlich eine Erwerbslosenberatung. Im großen Saal wollen wir das „Lokal Vielfalt“ noch mal mit neuen Ideen bespielen.

Ehrenamtliche werden immer wichtiger. Gibt es hier Ideen?

Wir wollen ein Fördernetzwerk gründen, in dem ehrenamtliche Arbeit möglich ist und zugleich Freizeitaktivitäten für die Aktiven angeboten werden. Denn nicht nur für Ältere ist es oftmals nicht leicht, neue Kontakte zu knüpfen. Auch für Menschen nach Trennungen oder wenn man neu in der Stadt ist. Also ein Ehrenamt mit modernem Anstrich anbieten. Projektorientiert, unverbindlicher, leicht zugänglich, mit dem man zugleich neue Formen der Gemeinschaft und Begegnung verwirklichen kann - damit beginnen wir 2025.


Wo ist die Not? – Schnelle Reaktion auf Bedarfe der Menschen

1924: Die Evangelischen Gemeinden Groß-Kölns gründen das „Zentral-Jugend- und Wohlfahrtsamt“ im CVJM-Haus Antoniterstraße als erste Diakoniestation mit fünf Fürsorgerinnen und zwei Bürokräften. Die damals so genannte „freie Liebestätigkeit“ in den Städten organisierte sich neu. Jugendämter, Heime, Kindergärten und Jugendschutzstellen wurden eingerichtet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Köln stark zerstört. In den 1940er und 50erJahren müssen soziale Einrichtungen neu aufgebaut werden. Kriegsopfer, Ausgebombte, Flüchtlinge, Vertriebene müssen mit Nahrung, Medizin und Wohnungen ersorgt werden.

Der Wirtschaftsaufschwung verursacht in den 1960er und 70er Jahren einen Arbeitskräftemangel. „Gastarbeitern“ und Geflüchtete aus den Kriegsgebieten wie Vietnam kommen auch nach Köln. Die Diakonie entwickelte Angebote für Nichtdeutsche – der Beginn der Migrationsarbeit. Neue Angebote gibt es auch für alleinlebende Ältere, die oft nicht mehr mit der nächsten Generation unter einem Dach leben.

Soziale Not durch finanzielle Sorgen, Arbeitslosigkeit, drohende Wohnungslosigkeit, Aids und psychische Erkrankungen prägen die 1980er Jahre mit. Familienstrukturen brechen auf, es gibt mehr Alleinerziehende. Die Diakonie berät Menschen in Krisen , unterstützt Familien und wirkt drohender Arbeits- und Obdachlosigkeit entgegen.

Kriege und die Strukturkrise sorgen für Verunsicherung. Die Diakonie beteiligt sich an der Entwicklung von sozialpsychiatrischen Hilfen und intensiviert Angebote von psychosozialer Begleitung und ambulanter Beratung, auch für Kriegsgeflüchtete aus dem ehemaligen Jugoslawien.

2000: Der Inklusionsgedanke wird gefördert, die Diakonie tritt für soziale Teilhabe ein, berät Arbeitsuchende, die durch Hartz IV stigmatisiert werden und Migranten, die vermehrt aus Osteuropa kommen. Quartiersprojekte derDiakonie verbessern die Lebensqualität im „Veedel“.

Immer wieder neue Krisen wie die Coronapandemie, Angriffskriege auch in Europa und die Klimakatastrophe beeinflussen ab 2010 die diakonische Arbeit. Mit den Verbänden der freien Wohlfahrt setzt sie sich für eine friedvolle, demokratische, vielfältige Gesellschaft ein, an der jeder Mensch teilhaben kann. (eb)