Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff hielt einen Vortrag im Evangelischen Citykirchenzentrum. In der politischen Ignoranz sieht er eine große Gefahr.
Christian Wulff in Köln„Wie viel Religion braucht die Demokratie?“
„Wie viel Religion braucht die Demokratie?“ Dieser Frage ging Bundespräsident a.D. Christian Wulff in einem nachdenklichen Vortrag im Evangelischen Citykirchenzentrum nach. Die größte Gefahr sieht der Altbundespräsident aktuell in der Entfremdung und Distanz zur Politik und in der politischen Ignoranz. Demokratie lebe von vielen Demokraten und aktivem Mitmachen.
Auf der Tribüne zu sitzen, nur zu lästern und mosern, schade dem fragilen Konstrukt der Demokratie. „Ist die Demokratie einmal weg, ist es sehr schwer, sie zurückzuholen. Jeder Einzelne sollte sich für den Erhalt und die Gestaltung der Demokratie verantwortlich fühlen“, betonte der ehemalige Ministerpräsident von Niedersachsen mehrmals.
Die Dämonen und Fratzen des 20. Jahrhunderts mit seinen menschenverachtenden totalitären Ideologien seien immer noch wirksam. Die sinkenden Mitgliederzahlen der demokratischen Parteien, die steigende Anzahl der Nichtwähler und die Radikalisierung der Gesellschaft bei gleichzeitigem Anwachsen einer überzogenen Individualisierung alarmierten ihn. „Wir brauchen mehr Wir-Gefühl und weniger Ich-AGs.“ Das Zusammenleben in einer bunten vielfältigen Gesellschaft sei eine Herausforderung, böte aber auch große Chancen.
Wulff: Liberaler und augeklärter Katholik
„Ich frage mich, ob Kirchen und Parteien auch deshalb an Zuspruch verlieren, weil sie sich nicht genügend darum kümmern, Bürger unabhängig von ihrer sozialen Lage und ihrer ethnischen Zugehörigkeit einzubinden“, so Wulff, der sich im Gespräch mit Pfarrer Markus Herzberg als liberalen, aufgeklärten Katholiken bezeichnete. Den Kirchen kämen angesichts grassierender Vereinsamung große Verantwortung zu. Gottes- und Gemeindehäuser müssten sich viel offener und zugewandter präsentieren. Als Präsident des Deutschen Chorverbandes habe er sich darüber geärgert, dass die Kirchen in der Pandemie nicht für Chorproben geöffnet wurden. „Da hätte man genügend Abstand einhalten und der in dieser Zeit besonders schmerzhaften Vereinsamung entgegenwirken können.“
Neben dem Appell für mehr Zusammenhalt rief der 63-jährige auch zum Mut für Veränderung auf. Dabei komme es auf das Engagement eines jeden Einzelnen an. „Wenn unser Land eine enkeltaugliche Zukunft zustande bringen will, dann braucht es das Zusammenwirken von Menschen, die noch gar nicht daran denken, dass sie zusammenwirken werden.“ Für die Zukunft sollte man sich an einen Ausspruch des griechischen Philosophen Aristoteles orientieren: „Es muss derjenige Teil, der wünscht, dass die Verfassung bleibt, stärker sein, als der, der das Gegenteil verlangt.“