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Buchvorstellung in KölnObdachlose sprechen über ihr Leben - „Die Straße tötet die Gefühle“

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Immer wieder für längere Zeit obdachlos: Kristina Maca.

Immer wieder für längere Zeit obdachlos: Kristina Maca.

Autor Richard Brox hat 30 Jahre auf der Straße gelebt. Er gibt Menschen ohne Obdach eine Stimme. Viele hatten den Mut, zu sprechen.

Mayas und Ägypter haben sie fasziniert, daran erinnert sie sich noch genau. „Ich war ein kluges Kind“, sagt Linda Rennings. „Es gab einen Lesebus, der besuchte uns oft in unserer Außenseitersiedlung am Rande von Köln. Ich wurde dort Stammgast.“ Linda Rennings, die Kölsche Linda, hat ihre Geschichte erzählt. Von ihrer Mutter, die Alkoholikerin war. Wie sie nach dem Tod ihrer Oma zu Verwandten durchgereicht wurde wie Ballast. Wie sie widerborstig wurde. „Widerständig, das wurde ich. Ich musste mich durchbeißen.“ Nach zwei Ehen mit gewalttätigen Männer verliert sie ihre Wohnung, schläft auf dem Friedhof neben dem Grabstein ihrer Großmutter. Heute hilft sie mit ihrem Verein „Heimatlos in Köln“ wohnungslosen Frauen und Mädchen, wo immer sie kann.

Sie alle haben den Mut und die Kraft, über ihr oft auch nicht so glückliches Leben zu sprechen, alle Menschen daran teilhaben zu lassen.
Co-Autor Albrecht Kieser

Linda Rennings erzählt, als eine von 21 Menschen, die irgendwann in ihrem Leben den Boden unter den Füßen verloren haben. Die lange obdachlos waren, oder es bis heute sind. „Sie alle haben den Mut und die Kraft, über ihr oft auch nicht so glückliches Leben zu sprechen, es öffentlich zu machen und alle daran teilhaben zu lassen“, sagt Albrecht Kieser. Er ist, wie auch Sylvia Rizvi, Mitautor des Buches „Deutschland ohne Dach“ von Herausgeber Richard Brox, in dem die Geschichten dieser Menschen zu lesen sind. Brox, der selbst 30 Jahre lang auf der Straße gelebt hat, hatte 2017 seine Biografie „Kein Dach über dem Leben" veröffentlicht; das Buch wurde bisher 30.000 Mal verkauft.

Manche der Protagonisten des jetzt im Erik-Wickberg-Haus der Heilsarmee Ehrenfeld vorgestellten Buchs haben als Gruppe mit den Autoren gesprochen, eine Roma-Familie hat Autorin Rizvi in ihre Zwei-Zimmer-Unterkunft eingeladen, in der vier Jugendliche und zwei Erwachsene leben. Alle, die erzählen, hatten bis zuletzt Zugriff auf die Manuskripte. Die Texte sind ein Wechsel aus wörtlicher Rede und sachlichen, zugleich zugetanen Zwischentexten, die es ermöglichen, den Menschen hinter den Zitaten sehr nahe zu kommen.

Am härteste ist es, wenn man zum ersten Mal auf der Straße lebt. Man ist jung, man darf nicht arbeiten, man kriegt nichts vom Jobcenter. Die Frage, die Du immer im Kopf hast, lautet: Wie überlebe ich diesen Tag?
Joson, obdachloser Jugendlicher

Etwa einer Gruppe Jugendlicher, die teils schon auf der Straße leben, seit sie 12, 13 Jahre alt sind. Jason ist der größte und kräftigste von ihnen. Er sagt, der Mensch sei ein Gewohnheitstier. „Man kann sich daran gewöhnen, im Käfig zu wohnen, und man kann draußen in der Welt wohnen. Am härteste ist es, wenn man zum ersten Mal auf der Straße lebt. Man ist jung, man darf nicht arbeiten, man kriegt nichts vom Jobcenter. Die Frage, die Du immer im Kopf hast, lautet: Wie überlebe ich diesen Tag?“ „Die Straße tötet die Gefühle“, sagt ein anderer.

Immer mehr pflegebedürftige Menschen leben auf der Straße

„Der Absturz kann völlig unvermittelt kommen. Und jeden treffen“, sagt der Kölner Journalist Günter Wallraff, der das Vorwort für das Buch geschrieben hat. Während der Wintermonate, in denen er selbst während einer Recherche zum Thema als Obdachloser gelebt hat, habe er einen Mann kennengelernt, der erfolgreicher Kleinunternehmer war. Ihm hatte der Unfalltod seiner Frau und seiner beiden Kinder den Boden unter den Füßen weggezogen, sagt Wallraff.

Ein anderer, der früher Ehrenamtler bei der Tafel war, habe in einem Wäldchen am Aachener Weiher gehaust. Immer mehr ältere Frauen verlören ihre Wohnung, wenn der Partner stirbt, schildert Linda Rennings ihre Erfahrungen. „Das Sozialamt zahlt die dann zu große Wohnung nur noch eine Zeitlang. Die Frauen sollen sich eine kleinere suchen, aber die bekommen sie nicht“, so Rennings. Dann würden sie von der Stadt in Mehrbettzimmern von Hotels untergebracht. „Deshalb leben immer mehr Frauen tagsüber auf der Straße, die pflegebedürftig, inkontinent oder auf einen Rollator angewiesen sind.“

Wir individualisieren Armut, weil sie uns Angst macht. Und uns zeigt, was passiert, wenn alle sozialen und familiären Netze reißen.
Günter Wallraff, Journalist

„Wir individualisieren Armut, weil sie uns Angst macht. Und uns zeigt, was passiert, wenn alle sozialen und familiären Netze reißen“, sagt Günter Wallraff. Deshalb würden Arme im Stich gelassen. Sie würden untergebracht, kämen aber nicht mehr raus aus ihrer Situation, denn ohne Wohnung sei es nicht möglich, ins Leben zurückzufinden, regelmäßig zu arbeiten.

Auch das Schicksal von Wanderarbeitern aus Osteuropa nimmt Richard Brox in den Blick. „Sie verlieren ihre Wohnmöglichkeit, wenn der Arbeitsvertrag ausläuft. Wenn sie nicht sofort ein Anschlussprojekt haben oder krank werden, sind sie von einem Tag auf den anderen wohnungslos. Wir begrüßen sie hier, und wenn wir sie nicht mehr brauchen, lassen wir sie fallen.“

Sie fallen oft abgrundtief. Wer wohnungslos ist, stirbt 50 Mal häufiger an einem nicht natürlichen Tod als Menschen mit Wohnung, die durchschnittliche Lebenserwartung sind 40 Jahre, sagt Wallraff. Wie das Autorenteam zeigt er im Buch auf, dass Armutspolitik nicht die Ursachen der Armut, sondern die Armen selbst bekämpfe. Dass ökonomische und politische Interessen die ungerechte Verteilung von Besitz immer weiter vorantrieben. Er fordert auf, nicht wegzusehen, nicht hinzunehmen, wie es ist. „Denn Armut“, sagt Wallraff, „ist kein Naturgesetz.“ Alle Menschen, die in seinem Buch von sich erzählen, hätten eines gemeinsam, schreibt Richard Brox. „Alle haben die unterste Ebene der Armut am eigene Leib und in ihrer Seele erlitten. Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch einen gesellschaftlichen Heilungsprozess befördert.“


Der Autor und seine Bücher

Richard Brox wurde 1964 in Mannheim geboren. Er kam mit fünf ins Heim, verweigerte die Schule, galt als schwer erziehbar. Nach einem Drogenentzug Mitte der 1980er Jahre verbrachte er 30 Jahre lang auf der Straße, lebt von Gelegenheitsjobs als Spüler, Aushilfskoch, sammelt Flaschen, bettelt.

2005 stellt er den Blog „Ohne Wohnung - was nun?“ ins Netz, in dem über 1000 Adressen zusammenkamen. 2008 hilft er Günter Wallraff bei seinen Recherchen als Obdachloser in den Wintermonaten. 2017 erscheint seine Biografie, er wird Gast in Talkshows. Seit 2019 lebt Brox in einer kleinen Wohnung in Köln. Er setzt sich für das Grundrecht auf Wohnen und für die Einrichtung eines Hospizes für obdachlose Menschen ein.

Deutschland ohne Dach, Richard Brox (Hrsg), Rowohlt-Verlag, 2023, 288 Seiten, 13 Euro

Kein Dach über dem Leben - Biographie eines Obdachlosen, Richard Brox, Rowohlt-Verlag, 2017, 272 Seiten, 12 Euro