33.000 mal im Jahr ist ihre Hilfe gefragt. Unterwegs im Bahnhof mit den Ehrenamtlichen in Blau.
125 Jahre Bahnhofsmission KölnDer Schutz junger Frauen war das erste Ziel
Draußen gleitet ein ICE vorbei, durch die Fenster sieht man aufragende Stahlstreben, die Geräusche des Bahnhofs dringen mit jedem neuen Gast in den Raum. Ansagen, fernes Stimmengewirr, das Klackern von Rollkoffern. Ein paar Gleise weiter kommt ein Regio-Express mit schrillem Schaben zum Stehen. „Ihr seid ja pünktlich wie ein Uhrwerk“, begrüßt eine junge Frau lachend zwei ältere, die die Tür zu sich heranziehen und reinkommen, Wollmützen auf den Köpfen, bester Laune. „Ja klar“, sagt eine. „Immer. Und heute gibt es ja hier die Karten.“
Die beiden möchten mal was Neues ausprobieren und zur „Kölschen Fastelovendssitzung för ärm Lück“ gehen, die das Kölner Husarencorps ausrichtet. Und Kaffee trinken. Sie setzen sich, verstauen ihre Tüten. So wie die fünf, sechs anderen Gäste der Bahnhofsmission am Gleis 1 des Hauptbahnhofs, die sich hier seit acht Uhr aufwärmen. Eine kalte Nacht liegt hinter ihnen, sie sitzen jeder für sich, trinken Tee oder Kaffee. Am Tisch ganz vorne spricht ein alter Mann in zerschlissener Jacke mit einer Mitarbeiterin. Seine Hände bewegen sich ununterbrochen. Er braucht Hilfe.
Seit 125 Jahren gibt es die Bahnhofsmission in Köln, ihr Arbeitsfeld hat sich mit den Jahrzehnten verändert, der grundlegenden Gedanke von Mitmenschlichkeit und Hilfe für alle, die sie benötigen, ist gleich geblieben (siehe Kasten). Im vergangenen Jahr gab es hier fast 33 000 Kontakte zu hilfesuchenden Menschen; zwei Drittel davon waren Männer. Die meisten kommen in den Gastraum, andere, die in den Passagen des Bahnhofs sitzen, suchen die Ehrenamtlichen dort auf, verteilen kleine Wasserflaschen oder Sitzkissen gegen die Kälte. Auch die ursprüngliche Aufgabe der Bahnhofsmission, die Hilfe für Reisende, ist bis heute ein Schwerpunkt des von „In Via“ und der „Diakonie Köln und Region“ getragenen Angebotes.
Das ist offen für alle Menschen. „Sie können kommen und einfach jeden Tag nur einen Kaffee bei uns trinken. Niemand muss mit uns sprechen, wenn er oder sie das nicht möchte. Wir haben keine Zielgruppe sondern reagieren auf das, was gesellschaftliche Veränderungen an Hilfebedarf verursachen“, schildert die Leiterin der Bahnhofsmission, Ann Christin Frauenkron. Am Bahnhof würden sich solche Entwicklungen schon sehr früh zeigen. Die zunehmende Armut etwa, oder der deutlich gestiegene Anteil an Gästen, die unter psychischen Problemen litten. „Sie machen mittlerweile fast die Hälfte unserer Gäste aus. Darunter sind auch Menschen, die eine Wohnung und teilweise auch Arbeit haben und nicht ausschließlich wohnungslose Kölnerinnen und Kölner, die ja schon dadurch besonders belastet sind.“ Menschen, die als Gäste kommen, mache man ganz vorsichtig Gesprächsangebote, manchmal dauere es Wochen, bis sie sich öffneten, so Frauenkron. „Wenn sie es denn wollen.“
Das geschehe häufiger bei Mitarbeitenden wie Jule Wortmann, die ihr Jahrespraktikum der Sozialen Arbeit in der Bahnhofsmission macht. Der Grund: Die Gäste haben hier nicht sofort eine Sozialarbeiterin als Gegenüber sondern junge Menschen im Praktikum oder einen der rund 70 ehrenamtlich Mitarbeitenden. „Das macht es manchen leichter, über ihre Belastungen und Sorgen zu sprechen“, sagt Frauenkron. Das Sprechen alleine tue vielen Menschen schon gut. „Ein nettes Hallo, eine Frage danach, wie es ihnen heute geht das kennen manche aus ihrem private Leben so nicht mehr.“
Je nach Situation und wenn die Menschen das möchten, vermittelt das Team sie an weitere Stellen im Hilfesystem, wie zum Beispiel an Fachberatungsangebote und Notschlafstellen. Dieser Teil der Arbeit reizt Klaus Fischer besonders. Der 65-jährige Hochschuldozent steht kurz vorm Ruhestand; seit vier Jahren gehört er mit einem Einsatztag pro Woche fest zum Team.
Auch geflüchtete Menschen suchen hier Hilfe
Heute steht eine ganz andere Aufgabe an. Eine Familie mit drei Kinder aus Albanien hat die Zeit bis zur Abfahrt ihres Zuges im Warteraum der Bahnhofsmission verbracht. Sie muss zum Erstaufnahmelager nach Gießen. „Das ist eine ungewöhnlich lange Fahrt, und sie müssen in Siegen umsteigen“, sagt Fischer. Er versucht, dem Vater, der nur etwas Französisch spricht, das Prozedere des Umstiegs zu erklären. „In Siegen müssen sie das alleine schaffen“, sagt er. „Da gibt es keine Bahnhofsmission.“ Neben der Hilfe dabei, die richtige Zugverbindung zu finden macht die Vermittlung geflüchteter Menschen an Hilfsstellen oder die Hilfe für Arbeitsmigranten einen großen Teil der Arbeit aus. Im Jahr 2023 verzeichnet die Statistik der Kölner Bahnhofsmission 16 204 Kontakte in Sachen „migrationsspezifischer Hilfebedarf“.
Und auch Senioren und Menschen mit Beeinträchtigungen wenden sich häufig an die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden der Bahnhofsmission. „Vor allem um die Feiertage herum kommen viel Senioren zu uns, die einfach Unterstützung dabei brauchen, sich im Bahnhof zurecht zu finden“, erzählt Jule Wortmann. Das Kreuz auf ihrer blauen Mitarbeiter-Jacke verweist auf die christliche Orientierung und die historischen Wurzeln der Bahnhofsmission; in den Räuen an Gleis1 ist es dagegen nicht präsent. „Unser Team ist durch christliche Werte motiviert, aber christliche Religion ist keine Voraussetzung, hier ehrenamtlich zu arbeiten. Oder hier Hilfe zu bekommen“, sagt Ann Christin Frauenkron.
Manche Menschen im Bahnhof sind gar nicht in der Lage, zur Bahnhofsmission zu kommen. Sie sitzen auf den Bänken der E-Passage, in sich zusammengesunken, ihre Körper sind bis aufs äußerste vornübergekippt oder im Schlaf zur Seite verrenkt. Klaus Fischer und Jule Wortmann bieten ihnen kleine Flaschen mit Getränken an, ein Mann deutet auf eine Apfelschorle und freut sich, als er sie in Händen hält. Er fragt, wo man einen Schlafsack bekommen kann, die 22-jährige nennt ihm eine Ausgabestelle in der Nähe. Eine Frau mit einer Tasche von Tedi, zerschlissener Hose und grauer Mütze kommt dazu, spricht mit den beiden Ehrenamtlichen. Dann wird sie ernst und geht. Sie sagt: „Keine Arbeit, keine Kleidung, kein Geld, kein Nichts.“
Von katholischen Bürgerinnen begründet
Alle ihre Habseligkeiten in einem Koffer dabei hatten die oft erst 14-jährigen Mädchen, die Ende des 19. Jahrhunderts aus völlig verarmten Landstrichen in die großen Städte kamen – mit der Hoffnung, hier Arbeit zu finden. Aus der Eifel, dem Hunsrück und dem Bergischen Land kommend, stiegen sie am Kölner Hauptbahnhof aus. Hier wurden sie von Männern erwartet, die sie mit Versprechungen zum Mitgehen bewegten; Ausbeutung und Prostitution waren für viele die Folgen.
1889
schlossen sich in Köln katholische Frauen unter der Leitung von Jeanne Trimborn zu einem Verband zusammen, um die Mädchen zu schützen. Sie boten ihnen Unterkunft in Schwesternhäusern, vermittelten ihnen Arbeitsplätze und Fortbildungen und kämpften gegen die organisierten Mädchenhändler. Aus dieser und zahlreichen weiteren Hilfsinitiativen entstand die heutige Bahnhofsmission.
Als erstes ökumenisches Projekt der Tat bezeichnet der Soziologe Bruno W. Nikles die Begründung einer Interkonfessionellen Kommission für Bahnhofsmission, mit der eine enge Zusammenarbeit der Missionen vereinbart wurde. Er hat die Geschichte der Bahnhofsmission in Deutschland in einem Buch mit vielen Originaldokumenten und Fotos aufgezeigt. An Bahnhöfen träten die dunklen und und hellen Stunden der Geschichte unmittelbar in Erscheinung. Mehr noch. „Bahnhöfe sind Seismographen, hier treten die Folgen gesellschaftlicher Entwicklungen ganz früh zutage.“
1910
Der „Alte Wartesaal“ neben dem Hauptbahnhof war früher ein geräumiger Wartebereich für die 1. und 2. Klasse. Unmittelbar daneben lag der kleine „Raum des Mädchenschutzes“. In den Anfangsjahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich die Helferinnen zunächst mit einem Materialschrank im Bahnhof begnügen müssen; später wurde ihnen ein Stehpult gestattet, um die jungen Frauen in der Bahnhofshalle auf ihr Hilfsangebot aufmerksam zu machen.
1914
Vom Ersten Weltkrieg an bis in die 1970er Jahre trugen die Mitarbeiterinnen der Bahnhofsmission weiße Schwesternkleidung, teils auch mit Häubchen, ebenso wie die ebenfalls mit der Versorgung durchreisender Soldaten betrauten Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes.
nach 1918
Die innerstädtischen Hilfen nahmen nach dem Ersten Weltkrieg einen immer größeren Raum in der Arbeit der Bahnhofsmissionen der Städte ein. Hyperinflation und Arbeitslosigkeit führten zu bitterer Armut weiter Teile der Bevölkerung.
1939
Verboten wurden die kirchlich getragenen Bahnhofsmissionen 1939. An ihre Stelle trat der Nationalsozialistische Bahnhofsdienst in Kombination mit dem Roten Kreuz, dem Bund Deutscher Mädel und der Hitlerjugend. „Ihre Aufgaben waren die Bewältigung der Flüchtlingsströme und der erweiterten Kinderlandverschickung von 100 000den Kindern in die Ostgebiete“, so Nikles.
1945
Schon Wochen nach Kriegsende nahmen viele evangelische Bahnhofsmission Mitte 1945 ihre Arbeit wieder auf. Bei kleineren Missionen stand zukünftig die Hilfe für Reisende im Vordergrund, bei größeren die Versorgung sozial schwacher Menschen, die im Umfeld von Bahnhöfen immer mehr in Erscheinung traten.
1956
Aus politischen Gründen waren die Bahnhofsmissionen in der DDR seit 1956 verboten; man fürchtete Kontaktnetze in den Westen. Heute gibt es in den Ländern der früheren DDR nur sechs Bahnhofsmissionen.
Bahnhofsmission und Bahnhofsdienste in Deutschland, Bruno W. Nikles, Verlag Barbara Budrich