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Zeichen der SolidaritätGemünder hält jede Woche eine Mahnwache für die Ukraine

Lesezeit 5 Minuten
Mahnwache Gemünd

Der harte Kern: Etwa 15 Menschen kommen seit März jeden Mittwoch zur Mahnwache nach Gemünd.

Schleiden-Gemünd – Es ist ein milder Herbstabend. Von der nahen B266 ist das Rauschen des Feierabendverkehrs zu hören. Im Bistro am Plan stehen ein paar Männer und trinken Bier. Direkt gegenüber auf dem Nepomuk-Platz baut Karl-Heinz Lorbach einen kleinen Tisch und ein Mikrofon auf. Er hängt Plakate ans Brückengeländer und an einen Baum. Auf einem ist die Flagge der Ukraine abgebildet, mit Herzen, Friedenstaube und Peace-Zeichen. „Solidarität“ steht darauf. Seit 30 Wochen organisiert Lorbach die Mahnwachen für die Menschen in der Ukraine: jeden Mittwoch, immer um 19 Uhr.

Nicht einmal ist sie ausgefallen. Als Lorbach mal nicht konnte, hat er eine Vertretung besorgt. „Man muss einfach was machen“, beschreibt der 61-Jährige seine Motivation.

Er gibt sich viel Mühe mit den Mahnwachen. Fast immer bereitet er ein Thema vor. So hat er schon über die Geschichte der Ukraine gesprochen, die UN-Charta, moderne Kriegsführung, die russische Verfassung, Ärzte ohne Grenzen und vieles mehr. Immer geht es in seinen Vorträgen auch um die Ukraine – aber nicht nur. Jeden Samstag starte er seine Recherche: „Fünf bis sechs Stunden brauche ich dafür schon, bis ich das zusammengestellt habe.“

Karl-Heinz Lorbach Gemünd

Bis zum Kriegsende will Karl-Heinz Lorbach weitermachen.

Lorbach ist Bauingenieur bei der Autobahn GmbH. Als Projektleiter Brückenbau ist er aktuell für den Neubau der Leverkusener Rheinbrücke zuständig. „Das spannt mich auch ein, klar. Aber die Zeit, etwas vorzubereiten, nehme ich mir.“ Manches sei für ihn schwer zu ertragen, etwa der Bericht aus dem Spiegel über einen 17-Jährigen aus Mariupol, der im Krieg seine ganze Familie verloren hat. Zwei Abende berichtete Lorbach darüber: „Das nimmt einen mit.“

Zur Mahnwache in Gemünd kommen nach wie vor Leute

Die Glocken läuten, nach und nach kommen ein paar Menschen auf den kleinen Platz an Urft und Olef und setzen sich auf die Holzbänke. Zur ersten Mahnwache seien 50 Leute gekommen, zur zweiten sogar 60, berichtet Lorbach. Doch das Interesse ebbte ab. „Jetzt hat sich ein harter Kern gebildet“, sagt Lorbach. Zehn bis 15 Leute kommen nun nur noch – dafür aber regelmäßig. An diesem Abend sind es 16.

Nachdem der letzte Glockenschlag von St. Nikolaus verklungen ist, tritt Lorbach ans Mikrofon. Jede Mahnwache beginnt er damit, zu sagen, wie lange der Krieg nun schon dauert. 223 Tage sind es an diesem Abend. Danach nennt er die vom UN-Hochkommissariat für Menschenrechte bisher bestätigten, zivilen Todesopfer. Bis zum 19. September sind es 5537, mindestens 379 davon Kinder.

Anschließend beginnt Lorbach seinen Kurzvortrag. Das Thema diesmal: das Recherchezentrum Correctiv. Der Gemünder stellt zunächst die Arbeit der spendenfinanzierten Redaktion vor, dann schlägt er die Brücke zum Ukraine-Krieg. Die investigativen Journalisten deckten eine russische Desinformationskampagne auf, bei der gefälschte Regierungsdokumente und Nachrichtenseiten genutzt wurden, um in Deutschland Stimmung gegen die Ukraine zu machen.

Gemünder wollen ein Zeichen setzen

Etwa 15 Minuten spricht Lorbach, die Menschen auf dem Platz hören zu. „Er recherchiert toll“, sagt Veronika Koller, die mit ihrem Mann Werner und Hund Falko schon seit März immer wieder hierhin kommt. Ihrem Mann ist es wichtig, den Krieg nicht aus den Augen zu verlieren und informiert zu bleiben.

Flutbetroffene will an andere denken

Zur Kerngruppe der Mahnwache in Gemünd gehört auch Evelyn Lattmann. Die 73-Jährige Tierärztin im Ruhestand ist zu Fuß mit dem Rollator gekommen. „Wir kommen ja einfach, weil uns das berührt“, sagt sie. Und: „Ich möchte das nicht aus dem Blick verlieren.“

Sie selbst sei „abgesoffen“ bei der Flut 2021. Das Gefühl, vor dem eigenen, zerstörten Zuhause zu stehen, kenne sie. Doch im Vergleich zu den Menschen in der Ukraine gehe es ihr gut. Sie habe das Glück, in einem Land zu leben, in dem der Staat ihr beim Wiederaufbau helfe. Vielen Menschen sei gar nicht klar, wie gut es ihnen eigentlich gehe. Deshalb komme sie jeden Mittwoch hierher: „Ich will den Blick weiter auf die richten, denen es viel schlechter geht als mir.“

„Ein Zeichen zu setzen, auch wenn viele sagen: Es bringt nichts“, beschreibt Bettina Galas einen Grund, immer wieder zur Mahnwache zu kommen. „Ich bin froh, dass es in Gemünd so etwas gibt“, fügt sie hinzu. Das ist auch Lorbach wichtig: Er habe ein Angebot schaffen wollen, das für die Gemünder fußläufig erreichbar ist, für das man nicht bis in die nächste Großstadt fahren muss.

Die meisten Anwesenden sind mittleren Alters. Am Anfang habe er die Mahnwache und die Themen für Kinder ausgerichtet, so Lorbach. Doch nach dem vierten Treffen seien keine Kinder mehr gekommen. „Ist vielleicht auch zu spät“, überlegt er mit Blick auf den Start um 19 Uhr. Seitdem richtet er seine Vorträge an erwachsene Ohren. Er bemühe sich, die Themen überparteilich und frei von seiner Meinung vorzutragen. Das ist ihm wichtig, denn er ist auch Sprecher des Schleidener Grünen-Ortsverbands. Die Mahnwache organisiere er aber privat, nicht politisch.

Gemünder will Mahnwachen bis zum Kriegsende anbieten

Nach dem Vortrag folgt eine Schweigeminute für die Opfer des Krieges in der Ukraine und allen anderen aktuellen Kriegen. Dazu erheben sich alle. Schweigend stehen sie da, während auf der Bundesstraße weiter der Verkehr rauscht.

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Im Anschluss bleiben die meisten noch ein paar Minuten, tauschen sich aus. Das sei für viele wichtig, sagt Lorbach. Deshalb, und weil er es zeitlich nicht immer schaffe, bringe er nicht jeden Mittwoch ein spezielles Thema mit. Stattdessen gebe es dann die Möglichkeit zum Gespräch: „Das erste Mal, als ich kein Thema hatte, habe ich gemerkt: Da war auch ein Bedarf da, sich auszutauschen.“

Lorbach will die Mahnwachen solange anbieten, bis der Krieg vorbei ist. „Ich mache weiter“, sagt er ganz selbstverständlich.