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Weihnachtsbaum am DomDie letzte Reise einer Silbacher Fichte

Lesezeit 7 Minuten

Ab nach Frankreich. Die Nordmanntännchen werden von einem Hof in Overath exportiert.

Der Mann, der den Weihnachtsbaum für eine Millionen Kölner gefunden hat, trägt Tirolerhut und heißt Hubertus, wie der Schutzpatron der Jäger. Es ist ein Februar-Sonntag, als er ihn am Ortsrand von Silbach entdeckt. Silbach ist ein 900-Einwohner-Dorf in der Nähe von Winterberg, Hubertus Bartels gehört hier ein kleiner Forstbetrieb. Die Rotfichte steht neben einer schmalen Straße, gerade breit genug für einen Laster, wenn kein Gegenverkehr kommt. Am selben Tag erzählt Bartels seinem Kumpel Alfons Schmidt von dem Baum. Schmidt, Landschaftsplaner und Ökologe, trägt die Fichte auf seine Liste ein. Vorschlag Nummer sechs für den Weihnachtsmarkt vorm Kölner Dom.

29 Millionen Christbäume sind laut dem Hauptverband der deutschen Holzindustrie 2011 in Deutschland verkauft worden. 70 Prozent stammen aus heimischem Anbau, knapp acht Millionen aus dem Sauerland - Tendenz steigend. Dieses Jahr soll auch die Silbacher Fichte zum Tannenbaum werden. Zum größten von ganz Nordrhein-Westfalen.

Es ist März, als Roland Temme, der Geschäftsführer der Kölner Weihnachtsgesellschaft, den Star seines Geschäfts zum ersten Mal sieht. Er ist mit seiner Frau ins Sauerland gekommen, zum Weihnachtsbaum-Casting mit Alfons Schmidt. Schmidt, der die Weihnachtsgesellschaft schon 2011 mit einer Tanne beliefert hat, verdient sein Geld hauptsächlich als Baumsachverständiger: Er identifiziert sogenannte Problembäume, die eine Gefahr für den Straßenverkehr darstellen, weil ihre Äste auf die Fahrbahn zu fallen drohen. Und er schreibt Gutachten wie das über jene fast 400 Jahre alte Buche im Nachbarort Brunskappel, die nun als Baumdenkmal vor der Fällung geschützt ist. Weihnachtsbäume sind eigentlich sein Privatvergnügen, sie fallen weder in die eine noch in die andere Kategorie.

"Bleiben Sie weg mit Fichten"

An diesem Vorfrühlingstag fährt Schmidt mit den Temmes von Baum zu Baum. "Als ich sagte, wir schauen uns auch eine Rotfichte an, hat Herr Temme protestiert: ,Bleiben Sie weg mit Fichten!'", erinnert sich Schmidt, der weiß, dass die meisten mit dem Begriff Tannenbaum keine Fichte verbinden. Er habe die beiden dennoch nach Silbach gelotst. Schon vom aus Auto soll Roland Temme geschwärmt haben: "Was für eine schöner Baum - und was für tolle Zapfen!" So erzählt das zumindest Schmidt. "Als ich sagte: ,Wir gucken uns gerade eine Fichte an', war er ziemlich überrascht."

Roland Temme sagt heute: "Das Ding sieht echt hammermäßig aus." Aber Tanne oder Fichte? "Ganz ehrlich: Das kann ich nicht unterscheiden."

Nicht nur im Sauerland haben die Weihnachtsbaumkulturen mit ihren Zäunen und Gittern die Landschaft verändert. Auch im Bergischen Land gibt es immer mehr Anbauflächen. Es ist Anfang November, als Meinolf Mütherich auf seinem Firmengelände in Overath nach dem Rechten sieht. Der 51-Jährige ist Vorsitzender der Fachgruppe Weihnachtsbaum- und Schnittgrünerzeuger Westfalen-Lippe und einer der größten Produzenten. Der Hauptsitz der Mütherich Nadelholzkulturen ist im sauerländischen Eslohe. Zum Betrieb gehören insgesamt 200 Hektar Fläche.

Pflanzenschutzmittel werden heiß diskutiert

"Wie definieren Sie Gift?", ruft Mütherich fröhlich und seine raue Stimme wird kieksig an der Stelle, wo das Fragezeichen ist. Meinolf Mütherich liebt Sätze mit Frage- oder Ausrufezeichen. "Nehmen Sie Medikamente?" fragt er. "Wenn Sie morgens die dreifache Ladung Pillen schlucken, dann haben Sie Gift genommen!" Beim Pflanzenschutz - "es heißt ja: Pflanzen-Schutz!" - setze er auch Medikamente ein und nehme davon nur die erlaubte Dosis. Wie viele Weihnachtsbäume zurzeit auf seinem Land wachsen, weiß er nicht so genau. Deshalb sitzt er jetzt in der schlecht geheizten Kaffeeküche vor seinem Büro und tippt auf dem Taschenrechner herum. "Auf einem Hektar wachsen 8000 Bäume. Mal 200 Hektar - das müssten 16 Millionen sein, oder?" Der Tannenbaum-Millionär hält inne. Er hat sich beim Kopfrechnen verkalkuliert. Laut Rechner besitzt er nur 1,6 Millionen Bäumchen. Die Zahl sei aber sowieso übertrieben, weil ja nicht jeder Quadratmeter bepflanzt sei. Ohnehin könne er pro Jahr nur ein paar Zehntausend Bäumchen ernten, sagt Mütherich. "Wissen Sie, wie lange ein Weihnachtsbaum wachsen muss?" Wieder ein Kieksen. Gleich müsste ein Rufzeichen folgen. "Zwölf Jahre! Ein Weihnachtsbaumbauer kann nur viermal im Leben ernten!" Und da sei die Kindheit schon eingerechnet.

Auf dem Parkplatz vor Mütherichs Büro warten Hunderte eingenetzte Tännchen auf den Abtransport. "Die gehen nach Frankreich", erklärt Mütherich. "Die lieben da kleine Tannenbäume." Die Nordmanntanne ist Mütherichs Profitbringer. 80 Prozent der Weihnachtsbäume, die in Deutschland verkauft werden, sind jene pflegeleichten, die nach dem finnischen Biologen Alexander von Nordmann benannt sind. Zwischen 22 und 25 Euro bringt der Festmeter zurzeit. Blaufichten kosten zwischen 15 und 18 Euro, Rotfichten nur acht bis zwölf. Meinolf Mütherich zieht seine Bäume im sogenannten Jiffy-System heran: Die ersten drei Jahre verbringen die Tännchen im Gewächshaus, jedes in seinem eigenen Torfquelltopf. Erst danach werden sie in die Erde gepflanzt. "So müssen wir uns nicht nach der Jahreszeit richten", erklärt Mütherich. Außerdem brauchen derart gezogene Bäume nur zehn statt zwölf Jahre bis zur Schlagreife.

Tannenbäume waren ein letzter Strohhalm

Auch im Kampf gegen das Unkraut, das die Pflanzen am Wachsen hindert, helfen Anbauer der Natur auf die Sprünge. Die meisten besprühen ihre Bäumchen mehrmals im Jahr mit Insektiziden und Herbiziden. Seit Tierversuche allerdings nahelegen, dass das häufig verwendete Spritzmittel Glyphosat möglicherweise die ungeborene Frucht schädigt, sind Umweltschützer alarmiert. "Giftfreies Sauerland" heißt eine Bürgerinitiative, mit der Mütherich als Vorsitzender der Weihnachtsbaumerzeuger gerade einen Kompromiss ausgehandelt hat. Nach zähen Verhandlungen, bei denen NRW-Landwirtschaftsminister Johannes Remmel (Bündnis 90/Grüne) vermittelte, einigten sich Umweltschützer und Anbauer auf einen Zehn-Punkte-Plan. "Fahrgassen, Gräben, Randstreifen und mindestens 50 Zentimeter breite Pufferstreifen werden nicht mehr mit Pflanzenschutzmitteln behandelt, damit sich dort Lebensräume für Pflanzen und Tiere entwickeln können", heißt es unter Punkt 1. Die Vereinbarung sei "ein guter Schritt", sagt Claudia Wegener, Sprecherin der Bürgerinitiative. Allerdings nur ein allererster.

Doch es gibt auch eine andere Sichtweise. Für viele Landwirte, die durch Kyrill Dutzende Hektar Wald verloren haben, seien die Tannenbäume ein letzter Strohhalm gewesen, sagt Meinolf Mütherich. "Die Alternative war: Sie pflanzen wieder Fichten oder Buchen und warten 100 Jahre bis zur Ernte." Und die Spritzmittel? "Wollen Sie die Bäume essen?" fragt Mütherich. Ein Scherz. Es stimme schon, die Erzeuger müssten versuchen, Schritt für Schritt von der Chemie loszukommen, sagt er. Doch seine Waldbauern seien konservativ. "Dieses Umdenken kriege ich bei meinen Leuten nur peu à peu hin", gibt Mütherich zu. Der erste Schritt sei das neue "Fair Forest"-Siegel, das sich die Anbauer gegeben haben, die nun nach den Zehn-Punkte-Regeln wirtschaften. "Sie schreiben doch noch über unser Öko-Siegel?" fragt Mütherich.

Wer auch über das Siegel schreibt, ist die Initiative "Giftfreies Sauerland". Mitte November ist auf ihrer Webseite zu lesen: "Wir haben den Verdacht, dass unser Bestreben nach einem ökologischen Anbau von Weihnachtsbäumen von den Anbauern leider in erster Linie als Vermarktungsstrategie gesehen wird." Christbäume werden wohl noch länger ein Reizthema im Sauerland bleiben.

Mit dem Schwertransporter nach Köln

Vermarkten müssen Alfons Schmidt und Hubertus Bartels die Silbacher Rotfichte nicht mehr. Der Deal ist seit Monaten fix. Der Besitzer, ein Förster, hat eine Entschädigung bekommen. Für ihn ein gutes Geschäft. "Normalerweise zahlt man dafür, dass so ein Baum entsorgt wird", sagt Schmidt. Aber er kenne auch Leute, die ihren Baum nicht für den Weihnachtsmarkt fällen lassen wollen. "Ist ja schon traurig, dass so ein alter Baum für vier Wochen sein Leben lassen muss."

Die letzte Reise der Silbacher Rotfichte beginnt an einem eiskalten Freitag. Schon am Tag zuvor haben Bartels und Schmidt ihr die unteren Astkränze abgesägt, weil der Baum vor dem Kölner Dom in ein Gerüst eingelassen wird und unten astfrei sein muss. Schon am Morgen ist ein Schwertransporter vorgefahren. Über der Fichte schwebt jetzt der lange Arm eines Krans. Alfons Schmidt sitzt im Baum und macht die Fichte an Seilhaken fest. Als er wieder unten ist, wirft Bartels die Säge an. Minuten später ist der Stamm durch. Es ist Mittag, als die Fichte auf den Laster schwebt. Bartels und Schmidt binden die Äste mit Spanngurten an den Stamm. 4,50 Meter Breite: Die Obergrenze für so einen Transport.

Um 22.10 Uhr kommt die Polizei. Bartels startet den Motor. Die Beamten geleiten den Transport jeweils bis zur Kreisgrenze, dann übernimmt eine andere Dienststelle. Nachts um zwei kommt der Dom in Sicht. In Köln fährt der Baum nur noch Schritttempo. Anwohner, deren Autos die Strecke versperren, werden aus dem Bett geklingelt, Fahrräder und Blumenkübel verrückt. Kurz nach drei stellt Bartels den Motor ab. Jetzt noch ein Bier auf den geglückten Transport. Dann schlafen.

Es ist 9.55 Uhr, als ein Kran die Silbacher Fichte ins Gerüst vor dem Dom hebt. Menschen bleiben stehen. Fotokameras werden gezückt. 1000 Kugeln, 1000 Sterne, 50 000 Lichter.

Dann kann die Show endlich beginnen.