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Puppen wie echte SäuglineWas Erwachsene an Reborn Babys fasziniert

Lesezeit 5 Minuten

Sandra N. mit ihrem – künstlichen – Ein und Alles.

Drei Wochen ist James alt, 52 Zentimeter groß und wiegt 2650 Gramm. Der kleine Junge hat blaue Augen, lächelt fröhlich und ist der ganze Stolz seiner Mutter Sandra N. „Er schreit nie“, sagt sie, als sie sich über den Kinderwagen beugt und ihm den Schnuller in den Mund setzt. James ist nicht nur pflegeleicht, er wird niemals weinen, in die Hose machen oder Omas Porzellan zertrümmern. Denn James ist kein Mensch, sondern eine Puppe.

Er ist ein „Reborn Baby“: Eine Puppe, die aussieht und sich anfühlt wie ein echtes Baby, in all seiner Zerknautschtheit und Unebenmäßigkeit. Wie so vieles nahm auch dieser Trend seinen Anfang in den USA. Inzwischen gibt es auch in Deutschland eine wachsende Anhängerinnenschar und unzählige Facebook-Gruppen, in denen sich Rebornerinnen austauschen und Fotos posten. Werden die Puppen zum Verkauf angeboten, sprechen die Frauen sogar von „Adoption“.

Puppe wurde nach ihren Vorlieben gestaltet

Für James hat Sandra N., Mitarbeiterin in einem Callcenter, neben dem Kinderwagen auch eine komplette Erstausstattung aus Stramplern, Mützen und Wiege. Wacht sie morgens auf, schaut sie in sein Bett im Schlafzimmer. Warum tut das eine erwachsene Frau? „Wenn ich sein Lächeln sehe, dann kann am Tag nichts mehr schief gehen“, sagt sie. Und: „Ich konnte mir mein Wunschkind bestellen.“ Haar-, Haut- und Augenfarbe – die Puppe wurde komplett nach den Vorlieben von Sandra N. gestaltet. 430 Euro hat sie für James bezahlt. Ein Kinderersatz ganz bequem im Internet bestellt? „Nein. Es ist und bleibt eine Puppe“, sagt die 40-Jährige, die selbst Mutter einer 18-jährigen Tochter ist.

James stammt aus der Werkstatt von Barbara Klünder. Sandra N. ist eine Stammkundin der Rentnerin, die vor 13 Jahren angefangen hat, Reborn Babys herzustellen. Im Ruhestand hatte die ehemalige Krankenschwester und Erzieherin nach einem Hobby gesucht und stieß im Internet auf die Baby-Puppen. „Meine Kunden wollen sich mit einer Reborn etwas Gutes tun“, sagt sie. Ihre Geschöpfe verkauft sie für 400 bis 600 Euro pro Stück in Deutschland, aber auch in die Schweiz, nach Großbritannien und Spanien.

Spezielle Sammlerstücke einiger Hersteller kosten im Internet sogar bis zu 25000 Euro. Die Herstellung dauert rund 60 Stunden. Bis zu 25 Farbaufträge bringt Barbara Klünder auf einen Bausatz auf: Kopf, Arme und Beine. Anschließend befestigt sie die Kopfhaare einzeln. Ohren, Nase und Fältchen zeichnet sie gesondert auf die Puppen, damit die so real wie möglich aussehen. Auch wenn sie Kundenwünsche berücksichtigt: Jede Puppe ist nach ihren eigenen Vorstellungen kreiert.

Reborn als Therapie-Puppe

Vor drei Jahren kaufte Sandra N. Penelope von Barbara Klünder und wurde damit zum ersten Mal Reborn-Mutter. Penelope war für sie eine Therapie-Puppe. Sandra N. litt am Burnout-Syndrom und hörte von der therapeutischen Wirkung von Reborn Babys. „Als ich Penelope auf den Arm nahm, merkte ich, wie mein Körper entspannte und ich runterfahren konnte.“ Noch heute helfen ihr Puppen in Stresssituationen. „Andere nehmen Antidepressiva, und ich nehme eben meine Puppe. Es geht mir gut dabei, und das ist alles, was zählt“, sagt sie.

Auch Klünder weiß vom therapeutischen Effekt, den ihre Reborn Babys haben können. Einige ihrer Puppen sind im Hospiz und Altersheim im Einsatz. Seit einem Jahr hilft Sandra N. mit einer Reborn-Puppe in einem Säuglingspflegekurs in einem Mutter-Kind-Heim – und dort auch werdenden Müttern. „Wer zum ersten Mal Mutter wird, hat während der Schwangerschaft viele Ängste. Reborn Babys liegen wie ein Säugling in der Hand, sodass Schwangere ein viel besseres Gefühl für ein Baby entwickeln können“, sagt sie. Mit ihrer Leidenschaft für die „wiedergeborenen Babys“ hat sie bereits andere angesteckt.

Liebe auf den ersten Blick

„Es war Liebe auf den ersten Blick“, beschreibt Wilma S. den Moment, als sie die sechs Monate alte Cheyenne sah. Auf einer Messe traf sie Sandra N., die ihre Puppe Cheyenne dabei hatte. „Kann ich sie mal nehmen?“, fragte Wilma S. Erst auf ihrem Arm bemerkte sie, dass Cheyenne gar kein Säugling war, sondern eine Puppe. Die beiden Frauen blieben in Kontakt, und weil Wilma S. Cheyenne nicht mehr vergessen konnte, verkaufte ihr Sandra M. die Puppe. Schweren Herzens und um den Preis wochenlanger Leere – ehe sie bei Barbara Klünder eine neue Puppe bestellte. „Es war eine schreckliche Zeit“, erinnert sich Sandra N. „Ich habe total schlecht geschlafen, weil mir etwas gefehlt hat.“

„Viele Menschen haben ein Hobby. Es gibt Männer, die spielen mit Eisenbahnen, und ich spiele eben mit meiner Puppe“, erklärt Wilma S., die zwei erwachsene Söhne hat. Die 59-Jährige hatte eine schwierige Kindheit und vermutet hinter ihrem neuen Hobby einen Nachholbedarf. „Ich hatte als Kind keine Spielsachen, keine Puppen. Vielleicht ist es deswegen“, sagt sie. Mit Kinderwagen würde sie aber nie vor die Tür gehen. „Meine Nachbarn würden das nicht verstehen.“ Bei Sandra N. ist das anders. Ihr Umfeld zeige Verständnis, ihr Mann helfe ihr sogar beim Bestellen von neuen Babys.

14 000 Abonnenten

auf YouTube

Star der Szene ist eine Schülerin namens Maggie. Auf ihrem YouTube-Kanal „Maggies Reborn Welt“ zeigt sie, wie sie mit ihren Reborn Babys Lennox, Mel und Benetton lebt, sie wickelt, an- und auszieht, füttert, spazieren fährt, sie ins Bett bringt. „Das Tollste an den Babys ist, dass man in jedem Alter Mama sein kann“, sagt Maggie. Auf YouTube erreichen sie aber auch viele Hass-Kommentare, wie „Ich finde das extrem krank!“, „Das ist verstörend!“ oder: „Was bist du für ein Psycho?“. Auch in der Schule sei sie mit ihrem Hobby „ziemlich alleine“, sagt Maggie. Darüber können sie inzwischen aber immerhin mehr als 14 000 Abonnenten hinwegtrösten.

Die „Wahrheit“, kennt wohl nur jede Frauen selbst. In einigen Wochen bekommt Sandra N. jedenfalls erst einmal Zuwachs. Deswegen baut sie gerade das Schlafzimmer um. Nicht für ein Kind, sondern für drei weitere Puppen.