Männlich, ledig, faulFalsche Notfälle bringen Klinikambulanzen an ihre Grenzen
25 Millionen Menschen in Deutschland suchen jährlich die Notfallambulanz eines Krankenhauses auf, etwa doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Was nicht etwa daran liegt, dass es mehr Notfälle gibt. Sondern daran, dass zunehmend Menschen mit Verstopfung, Hautjucken und anderen eher harmlosen Beschwerden in die Notaufnahme kommen. Warum tun sie das? Eine neue Studie gibt Antworten auf diese Frage – und offenbart, dass auch niedergelassene Ärzte oft ein falsches Verständnis von Notfallmedizin haben.
Es war drei Uhr morgens, als die Bereitschaftsärztin der Notaufnahme aus ihrem Erschöpfungsschlaf gerissen wurde. Ein Patient war gekommen, er klagte über „ein unerträgliches Jucken auf dem Rücken“. Sicher eine allergische Reaktion, so seine Vermutung, denn vorher hatte er Kontakt mit Katzenhaaren gehabt. Die Medizinerin fragte ihn, wie lange es ihn denn schon jucken würde. Die Antwort: „Seit gestern Abend.“ – „Und warum suchen Sie erst jetzt Hilfe deswegen?“ – „Weil ich noch ein wenig schlafen wollte.“
Viele könnten auch einfach zum Hausarzt
Ausschlag, Hexenschuss, Verstopfung, Schlaflosigkeit, Auffrischung des Impfschutzes – von den Patienten, die jährlich eine Notfallambulanz aufsuchen, hätten laut aktuellen Schätzungen mindestens 30 Prozent auch zum niedergelassenen Haus- oder Facharzt gehen können. Das Aqua-Institut kam 2016 im Auftrag des Verbandes der Ersatzkassen zu der Einschätzung, dass sogar bis zu zwei Drittel der Patienten in Notaufnahmen ambulant versorgt werden könnten. Stattdessen blockieren sie Personal und Ressourcen, so dass zusätzlicher Stress mit potenziell tödlichen Folgen entsteht.
Mit Hautausschlag nachts zur Notfallambulanz
Doch warum überschwemmen derzeit so viele Nicht-Notfälle die Notaufnahme? Einige Experten vermuten als Ursache, „Dr.Google“ biete für jedes Zipperlein eine schwere Krankheit an, die bei den Nutzern der Suchmaschine so große Panik auslöse, dass sie sich als Notfall betrachten.
Andere Fachleute bevorzugen soziologische Erklärungen. Demnach sei die Gesellschaft generell ungeduldiger geworden, man erwarte zu jedem Problem eine umgehende Lösung. All das klingt zwar überzeugend, aber handfest belegt ist es nicht.
Wissenschaftler des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf haben deshalb an drei Kliniken in Hamburg und Schleswig-Holstein ermittelt, mit welchen Motiven man dort die Notfallambulanzen aufsucht. Es zeigte sich, dass fast 55 Prozent der Patienten ihr Problem selbst nicht als Notfall einschätzten. Was auf den zweiten Blick durchaus nachvollziehbar klingt, wenn man betrachtet, was die Studienteilnehmer auf die Frage antworteten, wie lange ihre Beschwerden schon dauern würden. Da wurden Fristen von 30 Minuten bis 38 Jahren angegeben.
Männlich, ledig und faul
Der typische nicht-dringliche Notfallambulanz-Nutzer ist überwiegend männlich und ledig, und durchschnittlich sieben Jahre jünger als der tatsächliche Notfall-Patient. Jeder vierte ist der Überzeugung, dass er in der Notaufnahme besser versorgt wird als in einer Arztpraxis. Was nicht gerade schmeichelhaft für niedergelassene Mediziner ist. Dabei sind sie es selbst, die maßgeblich dazu beitragen, dass sich diese Vorstellung bei den Patienten erhärtet. „Ein Viertel der Studienteilnehmer gab an, aufgrund einer Einweisung oder ärztlichen Empfehlung die Notfallambulanz aufgesucht zu haben“, berichtet Scherer. Wobei nicht unbedingt nach dem Kriterium „Hier könnte ein Fall für die Notfallmedizin vorliegen“ verfahren wird. Immer wieder kommen Patienten, die ihr Hausarzt zum Anfertigen eines Röntgen- oder CT-Bildes geschickt hat.
Doch auch die persönlichen Motive der Notfallambulanz-Besucher sind wenig ehrenhaft. Ein Viertel von ihnen gab nämlich in der Studie als Motiv die eigene Bequemlichkeit an: Notaufnahmen haben jederzeit geöffnet, während die Praxiszeiten von niedergelassenen Ärzten oft wenig günstig für Arbeitnehmer sind.
Heiko Schmitz, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein benennt weitere Gründe: „Die meisten Patienten kennen die jeweiligen Krankenhäuser vor Ort, die dazu rund um die Uhr meist bequem erreichbar sind. Zum anderen erhoffen sich viele dort eine umfassende fachärztliche Diagnostik und Versorgung, für die im ambulanten Bereich eventuell mehrere Arztbesuche nötig wären.“
Auch die hohe Zahl und Dichte stationärer Einrichtungen im Land spiele eine Rolle, rund 170 Kliniken allein in Nordrhein. Im Vergleich dazu das Nachbarland Niederlande: Dort gibt es etwa 90 Kliniken für eine Bevölkerungszahl, die nur knapp unter der von NRW liegt.
Wie also könnte man hierzulande Notfallambulanzen entlasten? Der Verband der Ersatzkassen schlägt vor, an Krankenhäusern flächendeckend so genannte Portalpraxen einzurichten. Sie sollen als erste Anlaufstelle entscheiden, ob ein Patient in die Notaufnahme gehört oder doch ein Fall für den niedergelassenen Arzt ist.
Eine Gebühr von 20 Euro könnte abschrecken
Nominell gibt es in Nordrhein bisher zwar keine solche Portalpraxen. Eine Kooperation zwischen ambulantem und stationärem Bereich gebe es aber doch vielerorts. „Von den 75 kassenärztlichen Notdienstpraxen im KV-Bezirk sind 90 Prozent an oder in räumlicher Nähe zu Kliniken“, so Schmitz.
Ein Problem beim weiteren Ausbau der Kooperation sei die Frage der Finanzierung. Zurzeit finanzierten die Niedergelassenen den gesamten ambulanten Notfalldienst, also auch den in Krankenhäusern, aus ihrer Gesamtvergütung für die Regelversorgung. Dominik von Stillfried vom Zentralinstitut für kassenärztliche Versorgung benennt einen weitern Knackpunkt: „Es gibt gar nicht genug niedergelassene Ärzte, um solche Portalpraxen durchgehend und an allen Klinik-Standorten zu besetzen.“ Ganz zu schweigen davon, dass durch die personelle und apparative Ausstattung dieser Praxen zusätzliche Kosten von rund 1,7 Milliarden Euro entstünden. Neben den Portalpraxen werden deshalb auch andere Modelle diskutiert: Von Patienten, die nicht mit dem Krankenwagen in die Notfallambulanz kommen, könnte erst einmal eine Gebühr von beispielsweise 20 Euro erhoben werden. Sie soll nur zurückerstattet werden, wenn es sich tatsächlich um einen Notfall handelt.
Seit dem 1. April 2017 ist bereits die Abklärungspauschale in der gesetzlichen Gesundheitsfürsorge verankert. Sie regelt, dass Krankenhäuser eine Vergütung von 4,74 (tagsüber) und 8,42 Euro (nachts 19-7 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen) dafür erhalten, dass der Arzt in der Notaufnahme den Patienten kurz – laut Gebührenordnung wären das zwei Minuten – begutachtet und dann entscheidet, ob er ihn aufnimmt oder zu seinem Hausarzt schickt. Dadurch soll der eigentliche Betrieb entlastet werden. Doch kann man innerhalb von zwei Minuten zuverlässig entscheiden, ob jemand ein Notfall ist? Viele Ärzte bezweifeln das.