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Interview über den Umgang mit Schmerzen„Manchmal läuft einfach das Gehirn Amok“

Lesezeit 3 Minuten

Herr Albrecht, 23 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter ständigen oder wiederkehrenden Schmerzen ...

Entschuldigen Sie, aber „leiden“ ist das falsche Wort. Es stimmt, dass 23 Millionen Menschen wiederkehrende Schmerzen haben, aber nicht alle leiden.

Was ist denn der Unterschied?

Viele spüren die reine Reizwahrnehmung, scheren sich aber nicht um sie. Wirklich leiden tun vermutlich nur sechs Millionen, zwei Millionen davon stark.

Interessant, dass sich zum „Schmerz“ immer ganz unwillkürlich das „Leiden“ gesellt.

Das liegt daran, dass Schmerz in unserer Gesellschaft als etwas grundsätzlich Negatives gilt. Dabei wird übersehen, dass es zwischen der Reizwahrnehmung und ihrer Bewertung im Gehirn einen Unterschied gibt.

Können Schmerzen positiv sein?

Es kommt auf den Kontext an. Akutschmerz etwa bewerten wir oft negativ, weil er ein Warnsignal ist. Anders den Schmerz, den wir beim Essen einer scharfen Suppe spüren: Viele lieben den.

Sie erzählen in Ihrem neuen Buch eine Geschichte des Schmerzes. Wie hat sich unsere Einstellung denn im Laufe der Zeit gewandelt?

Sehr. Zwar war der Akutschmerz natürlich auch schon im Mittelalter ein Warnsignal. Aber früher war Schmerz kulturell stärker eingebettet, er hatte zum Beispiel auch religiösen Wert: Menschen im Mittelalter fühlten sich Gott näher durch den Schmerz. Heute fehlt diese kulturelle Einbettung – und auch die häufige Erfahrung – von Schmerz. Deshalb glauben wir, wir müssten immer gegen diese Empfindung angehen.

Sie fordern, den Schmerz aus der „Umklammerung der Medizin“ zu befreien. Wie meinen Sie das?

Die Medizin war lange nicht der natürliche Ansprechpartner bei diesem Thema. Früher war es die Religion. Im 19. Jahrhundert ermöglichte dann die Naturwissenschaft Narkosen und Schmerzmittel. Heute haben Ärzte tatsächlich gute Mittel gegen Akutschmerz. Allerdings ist Schmerz zu komplex, um ihn allein auf die Medizin abzuwälzen.

Warum?

Es hängt vom Kontext ab, wie wir Schmerz empfinden. Oft reicht es nicht, einfach eine Pille zu nehmen, wenn sich nicht auch der Kontext ändert – zum Beispiel mein stressiges Lebensumfeld.

Das heißt, ich selbst beeinflusse meinen Schmerz. Das klingt für manche Patienten womöglich zynisch.

Ich sage nicht, dass zum Beispiel chronische Schmerzen Einbildung sind, die man einfach abstellen könnte! Und ich will auch Medikamente nicht verteufeln. Ich sage nur: Wenn Schmerzen länger als sechs Monate bleiben, lohnt es, darüber nachzudenken, was man noch tun könnte. Bei chronischem Schmerz findet man oft keinen organischen Auslöser mehr. Manchmal läuft einfach das Gehirn Amok. Dann geht es darum, den Schmerz wieder zu verlernen.

Wie kann das funktionieren?

Zum Beispiel mit Ablenkung oder Menschen, die einen aus der Opferhaltung herausholen. Es geht darum, Kontrolle zu gewinnen, spielerisch mit dem Schmerz umzugehen, ihn nicht mehr so ernst zu nehmen. Das klingt vielleicht komisch, aber ich weiß aus eigener Anschauung: Auch in Selbsthilfegruppen von Schmerzpatienten wird gelacht.