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Interview mit KinderpsychologeBei Kindern auf die Stärken schauen und ermutigen

Lesezeit 8 Minuten

Der Therapeut versucht spielerisch, Zugang zum Kind zu finden.

Zu viel Liebe kann Kinder lähmen, zu hohe Ansprüche und zu viele Angeboten der Eltern allerdings auch. Über diesen Balanceakt in der Erziehung sprach Marie-Anne Schlolaut mit dem Kinderpsychologen Manfred Döpfner.

Herr Professor Döpfner, lassen die zuletzt in den Medien diskutierten Vergehen psychisch kranker Menschen – wie die Amokfahrt in Münster mit mehreren Todesopfern , oder die Tat des 23-Jährigen, der mit einem fremden Kind am Wuppertaler Bahnhof vor den Zug springt – den Schluss zu, dass psychische Krankheiten zunehmen?

Zu diesen Fällen und möglichen Ursachen kann und will ich mich als Psychologe für Kinder- und Jugendliche nicht äußern, weil ich die Hintergründe nicht kenne. Aber ja, es stimmt, uns werden mehr Kinder vorgestellt als noch vor Jahren. Jedoch belegen Studien, dass nicht die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt, sondern dass Eltern und Angehörige sensibler geworden sind und sich trauen, zu uns zu kommen, weil Versorgung und Therapien besser geworden sind. Das ist für mich eher ein positiver Befund.

Was macht Kinder psychisch krank?

Bei den meisten psychischen Störungen liegt eine Kombination aus genetischen und sozialen Bedingungen vor. Manche Kinder sind von Geburt an anfälliger für Verhaltens- oder emotionale Probleme. Häufig kommen Belastungen in der Familie oder in der Schule dazu, die sehr vielfältig sein können – Erziehungsprobleme, psychische Belastungen der Eltern oder Partnerschaftsprobleme, um nur einige Beispiele zu nennen.

Gibt es auch Kinder, die gravierende familiäre Situationen wie Trennung, Trauer, Gewalt schadlos überstehen?

Es gibt Kinder, die durchleben alle möglichen Umstände und bleiben psychisch gesund. Sie haben eine so gute körperliche und seelische Ausstattung, dass sie dadurch nicht verletzbar sind.

Das Institut

Das Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (Akip) an der Uniklinik Köln unter Leitung von Professor Manfred Döpfner behandelt pro Jahr rund 1000 verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche und bildet Kinder- und Jugendpsychotherapeuten aus.

Im Oktober 2017 hat das Institut, das zuvor auf dem Gelände des Uniklinikums auf fünf Standorte verteilt war, sein neues Domizil an der Pohligstraße 9 in Köln-Zollstock bezogen.

Gibt es psychische Störungen, für die man erst eine gewisse Reife haben muss?

Für Magersucht beispielsweise, weil das Kind dafür eine Körpervorstellung haben muss, wie man idealerweise auszusehen hat. Das setzt meist mit der Pubertät ein. Einem Sechsjährigen ist sein Körperschema schnurzegal.

Magersucht trifft vor allem Mädchen?

Ja, und immer früher, weil auch Pubertät und Sexualität früher einsetzen. Heute oft schon mit elf. Vor 100 Jahren hatten Mädchen mit 16 ihre erste Menstruation. Heute sind Elfjährige darauf bedacht, eine gute Figur zu haben.

In welchen gesellschaftlichen Kreisen ist das vorrangig der Fall?

Studien besagen, dass es quer durch alle Gesellschaftsschichten geht – auch in akademischen Kreisen. Und beispielsweise auch bei begabten Kindern, wenn sie in ihrer Familie wenig über ihre Gefühle reden können.

Tut sich ein Kind, das psychisch Hilfe braucht, leichter als ein Erwachsener?

Das kann man so nicht sagen. Leider sind psychische Störungen immer noch stigmatisierend. Wenn ein Kind in der Kinderklinik liegt und eine schwere Krankheit hat, dann sagt man „oh Gott, das arme Kind“. Wenn die Psyche krank ist, heißt es immer noch „ach, du musst in die Klappsmühle“.

Warum ist das so?

Weil die Gesellschaft und jeder von uns noch nicht verinnerlicht hat, dass eine psychische Störung eine Krankheit ist, die jeden treffen kann. Das Risiko, dass man im Verlauf seines Lebens an einer psychischen Störung leidet, liegt bei 40 Prozent. Wir sollten uns vergegenwärtigen: Eine psychische Störung ist etwas ganz Normales und gehört zum Leben.

Wenn bei einem Kind eine Störung auftritt und erfolgreich behandelt wird, bleibt trotzdem ein Restrisiko im Erwachsenenalter?

Ein Kind kann erfolgreich stabilisiert werden. Wer jedoch im Kindesalter psychisch erkrankt war, hat ein höheres Risiko neu zu erkranken – aber möglicherweise erkrankt man nicht mehr so stark.

Professor Dr. Manfred Döpfner, 62, ist seit 35 Jahren als Psychologe für Kinder- und Jugendliche tätig. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern im Bergischen Land.

Kommen die Eltern mit zur Therapie?

Fast immer, oftmals auch Lehrer und Erzieher. Aber gelegentlich tauchen auch Eltern auf, die sagen: Hier ist mein Kind, helfen Sie ihm – und sind weg.

Was sagen Sie dann?

Ich sage den Eltern, ich bin nicht so gut, ich brauche Sie, liebe Mutter, lieber Vater, damit wir gemeinsam überlegen können.

Wer ist schwerer zu therapieren: das Kind oder die Eltern?

Manchmal die Eltern. Wir empfehlen ihnen, auch eine Therapie zu machen, wenn wir merken, dass Eltern an ihre Grenzen kommen und eine eigene starke psychische Belastung haben. Kinder sind in der Regel kooperativ, sie bocken höchstens Mal, wenn sie Sorge haben, dass wir der verlängerte Arm der Eltern sein könnten. Kinder und Jugendliche wollen von ihrem Grundstreben her fröhlich, gesund und selbstständig sein und kommen deshalb am Anfang nicht so gerne zu uns.

Kann auch zu viel Liebe ein Kind psychisch belasten?

Wenn zu viel Liebe mit Ängsten und Einengung von Kindern gepaart ist, dann ja. Das kann bei Kindern zum Beispiel so starke Ängste hervorrufen, dass sie sich nicht mehr trauen in den Kindergarten oder die Schule zu gehen, weil meist die Mütter ihnen vermitteln, ihnen könne etwas zustoßen und sie seien großen Gefahren ausgesetzt.

Also ein klarer Fall von therapiebedürftigen Eltern?

Ja, Vätern und Müttern muss bewusst werden, dass Kinder Risiken aushalten müssen. Das Leben ist nun mal von Anfang an auch riskant. Man kann sein Kind nicht vor allen Schwierigkeiten des Lebens schützen, auch wenn man das als Eltern gerne möchte.

Führen übertriebene Fürsorge und Angst dazu, dass der Nachwuchs das „Hotel Mama“ ungern oder überhaupt nicht verlässt?

Ja, das kann gut sein. Manche Kinder entwickeln Trennungsängste, was wir ja gerade schon ansatzweise definiert haben. Andere können beispielsweise Motivationsprobleme bekommen und werden von Eltern als „faule Socken“ erlebt.

Man erzieht sich also systematisch die „faule Socke“?

Wir nennen das auch Verwöhnungsverwahrlosung. Kinder denken folgerichtig, warum soll ich mich überhaupt anstrengen, es wird doch ohnehin alles geregelt. Die Jugendlichen können lethargisch werden, ohne Bereitschaft sich anzustrengen. Sie wissen: »Die zahlen schon. Warum soll ich mich quälen?«

Also eher strenge Erziehung?

Nein, Kinder brauchen Freiräume und sie müssen gefordert werden. Das Gleichgewicht muss stimmen.

Warum fällt das Eltern oft so schwer?

Weil es heute so viele Möglichkeiten gibt. Und es gibt enorm viele Freiräume, sodass die Anforderung an Selbststeuerung und Selbstforderung wächst. Eltern müssen heute ihre Kinder begrenzen, wo eigentlich keine Grenzen erkennbar sind. Als es noch keine 50 TV-Programme gab, musste man auch keine 48 verbieten.

Die Möglichkeiten der eigenen Entwicklung sind ebenfalls vielfältiger geworden. Welche Gefahren der psychischen Überlastung birgt das?

Kinder werden in eine Negativspirale getrieben, wenn aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten zu viel gefordert wird. 50 Prozent der Kinder machen mittlerweile Abitur. Vor Jahren waren es gerade mal 15 Prozent. Es wurde früher schneller selektiert. Dann hat man eben kein Abitur gemacht. Heute wird durch die wachsenden Ansprüche Kindern viel abverlangt.

Versündigen sich Eltern durch dieses Leistungsdenken an ihren Kindern?

Häufig wird suggeriert, dass es die schlimmste Sünde der Eltern heutzutage ist, dass sie das Potenzial ihrer Kinder nicht ausschöpfen. Solchen Eltern würde ich gern mit auf den Weg geben: Wer gebildeter ist, ist nicht immer glücklicher. Ich kenne auch glückliche Elektriker. Wenn Väter und Mütter sagen, mein Junge ist ein schlauer Kerl, aber er muss nicht Abitur machen, denen wirft man schnell vor, dass sie Rabeneltern seien.

Was löst Leistungsdruck beim Kind aus und welche psychischen Folgen hat das?

Wenn ein Kind immer nur strampeln muss und Nachhilfe braucht, um die Nase über Wasser zu halten, dann lernt es, dass Leistung und Anforderung bedrohlich und gefährlich sind. Kinder werden misserfolgs-orientiert. Für sie ist klar: Ich mache nicht etwas, um Erfolg zu haben, sondern um Misserfolg zu vermeiden. Eine fatale Entwicklung.

Das besprechen Sie mit den Eltern?

Ja. Viele wünschen sich zudem einen IQ-Test für ihr Kind. Da ist es nicht leicht zu sagen: Herzlichen Glückwunsch, ihr Kind ist normal begabt, aber es könnte ihm schwer fallen, den Anforderungen auf dem Gymnasium ohne große Mühen gerecht zu werden.

Der bessere Weg wäre also?

Zu schauen, wo die Stärken des Kindes liegen. Hat es vielleicht eine Lese- und Rechtschreibschwäche, ist aber in anderen Bereichen richtig gut? Jeder Mensch hat Schwächen, aber wenn ich erfolgreich auf einem anderen Gebiet bin, kann ich mit meinen Schwächen besser umgehen und damit leben.

Bestimmte Erziehungsmuster mit entsprechendem Leistungsdruck können Ängste bei Kindern erzeugen. Lassen sich diese Ängste denn gut therapieren?

Angst ist grundsätzlich nichts Negatives, sondern überlebenswichtig, denn Angst warnt uns. Das hat der liebe Gott toll eingerichtet. Wenn da ein Löwe steht, macht es Sinn zu fliehen, bei einer Spinne eher nicht.

Welche psychischen Störungen bei Kindern machen einem Therapeuten zu schaffen?

Jede psychische Störung kann den Therapeuten vor große Herausforderungen stellen. Aber beispielsweise die Behandlung von Jugendlichen mit sogenannten Borderline-Störungen kann besonders anstrengend sein. Deren Behandlung ist faszinierend, aber als Therapeut mitunter schwer durchzustehen. Einen Tag lieben sie dich und klammern, und am anderen Tag sagen sie dir, dass du ein Idiot bist. Eine Borderline-Patientin sagte mal zu mir: „Ich brauch dich doch, du Arschloch“.

Können Kinder auch schwere psychische Krankheiten gut verarbeiten?

Kinder schaffen Erstaunliches, sie haben eine enorme Lebensfreude, einen enormen Lebenswillen. Aber wir Therapeuten gehören nun mal nicht zur Gattung der Götter. Wir können leider keine Wunder vollbringen.