Hintergrund zur GeschichteVor 70 Jahren wurden die Nürnberger Prozesse eröffnet

Blick in den Verhandlungssaal der Nürnberger-Prozesse (Archivbild von 1945). Am 20. November 1945 fand die Eröffnungssitzung des Internationalen Militärgerichts in Nürnberg statt. Bei den Prozessen saßen von 1945 bis 1946 führende Vertreter des NS-Regimes auf der Anklagebank.
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Berlin musste seine "Topographie des Terrors", das perfide und menschenverachtende Netzwerk der Nazis, erst unter den Trümmern bergen und führt interessierte Gäste seit 1987 durch einen Parcours des Grauens. Nürnberg, Namenspatronin der "Nürnberger Gesetze" und Adolf Hitlers "Stadt der Reichsparteitage", wurde zwar auch von alliierten Bombern in Schutt und Asche gelegt. Aber die Spuren von Hitlers Inszenierungen überstanden den Krieg nahezu unbeschadet am südöstlichen Rand der Stadt rund um den Dutzendteich: Albert Speers 300 Meter breite Zeppelintribüne, auf der Hitler Volk, Wehrmacht, Arbeitsdienst und SS auf sich und den Krieg einschwor, mit dem Märzfeld für Schau-Manöver; die Luitpoldarena für den NS-Toten- und Opferkult; die unvollendete, ans Colosseum in Rom erinnernde Kongresshalle; die zwei Kilometer lange, 60 Meter breite Große Straße als zentrale Achse.
Neue Grundsätze im Völkerrecht
Nach Jahrzehnten, in denen man nahezu unkommentiert Hitlers Forum dem erhofften Verfall, Touristen und Ewiggestrigen überließ, die sich mit "Deutschem Gruß" auf der Tribüne ablichten ließen, entstand 2001 im Nordflügel der riesigen Kongresshalle das hervorragende "Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände". Gerade einmal sechs Kilometer entfernt in nordwestlicher Richtung steht an der Bärenschanzstraße der wuchtige, düstere Justizpalast, ein 1909 bis 1916 errichteter Neorenaissance Bau. Vor 70 Jahren wurde dort (genauer: im Schwurgerichtssaal 600) Geschichte geschrieben. Die "Nürnberger Prozesse", insbesondere das 218 Sitzungstage umfassende Hauptverfahren gegen die Spitzen des "Dritten Reichs", waren ein historisches Novum.
"Der Leitgedanke des Nürnberger Prozesses, der für die Schaffung neuer völkerrechtlicher Rechtsgrundsätze sowie den Durchbruch des modernen Völkerstrafrechts steht, richtete sich zwar zunächst gegen die Verbrechen des NS-Regimes, war aber zeitgleich schon als universales Konzept angelegt", schreibt Henrike Zentgraf, Kuratorin des "Memorium Nürnberger Prozesse". Von Nürnberg führt ein direkter Weg nach Den Haag, wo 2002 der Internationale Gerichtshof seine Arbeit aufnahm. Seit 2010 dokumentiert das "Memorium" sehr anschaulich Vorgeschichte, Ablauf und Perspektiven der "Nürnberger Prozesse", an sitzungsfreien Tagen kann der Schwurgerichtssaal 600 besucht werden. Kleine Monitore zeigen Szenen aus dem Prozess gegen die NS-Spitze.
Wenige Tage vor der Kapitulation Hitlerdeutschlands am 8. Mai 1945 setzt der amerikanische Präsident Harry S. Truman seine Unterschrift unter den Präsidentenerlass Nr. 9547, die Berufung des Supreme-Court-Richters Robert H. Jackson zum amerikanischen Chefankläger eines noch zu gründenden internationalen Militärtribunals. Derweil herrscht unter den Granden des führerlosen (Hitler hatte am 30. April, Goebbels am 1. Mai Selbstmord begangen), untergehenden "Tausendjährigen Reichs" Panik, alles befindet sich in Auflösung. SS-Führer Heinrich Himmler, "Arrangeur des Holocaust" (Thomas Darnstädt), sucht erst in Flensburg bei Großadmiral Karl Dönitz Unterschlupf, will sich dann - er nennt sich "Hitzinger" - nach Österreich durchschlagen. Die Briten nehmen ihn fest, er zerbeißt am 23. Mai eine tödliche Giftkapsel. An eben diesem Tag treiben die Briten Dönitz' Untergangskabinett in dessen Schiff "Patria" (Vaterland) zusammen - im Captain's Room steht Hitlers Büste. Hitlers Nachfolger Dönitz, Alfred Jodl von der Wehrmachtsführung, Rüstungsminister Albert Speer, NS-Chefideologe Alfred Rosenberg und Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, werden in Haft genommen.
Mehrstündige Eröffnungsrede
Ebenfalls am 23. Mai ergreifen US-Soldaten in Tirol Julius Streicher fest, den Herausgeber des NS-Hetzblattes "Der Stürmer". Er wollte sich, bärtig als Künstler maskiert, absetzen. Zehn Tage zuvor war Ernst Kaltenbrunner, Leiter des "Reichssicherheitshauptamtes", einer US-Militärstreife in der sogenannten Alpenfestung Altaussee im österreichischen Salzkammergut ins Netz gegangen. Im Juni wird Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop in seinem Versteck aufgestöbert, man findet ihn im weiß-rosa gestreiften Pyjama, unter Kissen vergraben.
Am 29. August einigten sich die vier Alliierten auf insgesamt 24 Vertreter aus Politik, Militär und Wirtschaft, die als Hauptverbrecher und "Ober-Nazis" vor dem Internationalen Militärtribunal angeklagt werden sollten. Am 20. November saßen sie im Schwurgerichtssaal 600 erstmals auf der Anklagebank - ausgenommen Himmler, der "Arbeitsfront"-Chef Robert Ley (er hatte sich vor Prozessbeginn in seiner Zelle erhängt), der verhandlungsunfähige Industrielle Gustav Krupp und Martin Bormann, "Sekretär des Führers". Auch er ist tot, umgekommen beim Versuch, aus Berlin zu fliehen. Nur wissen die Ankläger das nicht; erst 1972 wird Bormanns Skelett entdeckt. Gegen ihn wird daher in Abwesenheit verhandelt.
Jacksons mehrstündige Eröffnungsrede zeichnet ein detailliertes Bild der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ist gleichzeitig ein Plädoyer für die Notwendigkeit eines humanitären Völkerrechts. "Dass vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat." Dies ist auch ein Statement gegen den damals in Kreisen der deutschen Bevölkerung gängigen Vorwurf der "Siegerjustiz".
Das Gericht betrat juristisches Neuland: Lediglich "Kriegsverbrechen" (Anklagepunkt 3) waren durch die Genfer Konvention (1864) bereits als Rechtsbruch definiert. "Verbrechen gegen den Frieden", "Verschwörung in Verbindung mit einem Angriffskrieg" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" hingegen waren kaum abgesichert, boten Stoff für Diskussionen. Der Anklagepunkt "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" hatte laut Zentgraf "später den größten Einfluss auf die Weiterentwicklung des Menschenrechtsschutzes durch völkerstrafrechtliche Normen". Die 218 Tage währende Beweisaufnahme, der minutiöse Recherchen vorausgegangen waren, öffnete schaurige Abgründe. Der Besucher des "Memoriums" kann heute etliche Dokumentarfilme sehen, die dem Gericht damals vorgeführt wurden.
Am 31. August 1946 bekommen die Angeklagten die Gelegenheit einer letzten Erklärung. Neun Monate Verhandlung, die 5000 vorgebrachten schrecklichen Dokumente, die Aussagen von 240 Zeugen waren an Göring und Co. offenbar völlig spurlos vorübergegangen. In den Erklärungen sieht die Historikerin Annette Weinke all jene Formen, "die in den Nachkriegsjahren zum Standardrepertoire des deutschen Selbstentlastungsdiskurses zählten". Die Parteiführer Hitler und Goebbels wurden dämonisiert, es ging um den "tragischen deutschen Idealismus" (Fritzsche, Dönitz), die "missbrauchte soldatische Treue" (Keitel), "unpolitische Beamtenpflicht" (Frick) und die "kalte technokratische Moderne" (Speer).
Nachfolgeprozesse gegen die "Eliten"
Am 30. September und 1. Oktober 1946 fallen die Urteile: Zwölf Mal die Todesstrafe (unter anderem für Göring, Ribbentrop, Rosenberg, Frick, Keitel und Jodl), drei Mal Lebenslänglich (unter anderem für Heß), vier Mal befristete Freiheitsstrafen (unter anderem Dönitz und Speer), drei Freisprüche (Fritzsche, von Papen, Schacht). Weinke verzeichnet einen "empfindlichen Rückschlag für die amerikanische Anklagebehörde", denn nur zwölf Angeklagte konnten wegen "Verschwörung und Verbrechen gegen den Frieden" überführt werden, alle Todeskandidaten immerhin waren der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig befunden worden.
Am 15. Oktober wurde die zum Tode Verurteilten gehängt, in der Nacht zuvor hatte sich Göring vergiftet. Zwölf Nachfolgeprozesse gegen die "Eliten" des "Dritten Reichs", gegen 177 Mediziner, Juristen, Industrielle, Militärs, Beamte und Diplomaten erstreckten sich bis 1949. Mit dem einsetzenden Kalten Krieg und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland schloss sich das Zeitfenster für die mehr oder weniger geschlossene juristische Aufarbeitung der NS-Greuel durch die Alliierten.