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FaszienDas sensible Netzwerk in unserem Körper

Lesezeit 6 Minuten
Faszien

Robert Schleip und seine Lockerungsübungen, die man zusammen mit seinen Kindern auf dem Spielplatz machen kann.

Mit ihrem Bindegewebe steht die Kabarettistin Gerburg Jahnke, vormals Star der "Missfits", gelegentlich auf Kriegsfuß. Ein Schicksal, das sie mit vielen Menschen jenseits der 30 teilt. Gerburg Jahnke ist der Überzeugung, dass ihr Bindegewebe nächtens dahin wandert, wo es nachweislich nicht hingehört. Und das blöde sei, dass es da auch bleibe. Mit der Zeit sei ihr klar geworden, dass "mein Bindegewebe Demenz hat, denn es findet den Weg zurück nicht mehr", sagt Jahnke. Nicht nur das. Dieses Bindegewebe, diese Faszien, können sich verhärten, verdicken, verfilzen und ihre Gleitfähigkeit verlieren.

Keiner weiß das besser als Robert Schleip. Er gilt als der Faszien-Papst schlechthin, denn er hat das Bindegewebe, dieses alles umspannende und hochsensible Netzwerk in unserem Körper, salonfähig gemacht. Schleip hat mit seiner Doktorarbeit über Faszien im Fach Humanbiologie nicht nur einen Preis geholt, sondern es auch ins renommierte Wissenschaftsmagazin "Science" geschafft. Er hat in seinem Labor unter Beweis gestellt, dass Botenstoffe, ausgelöst durch Stress, das Bindegewebe, also die Faszien, verkrampfen lassen.

Stress lässt Bindegewebe verkrampfen

Diese und andere Ursachen sind der Grund für viele Erkrankungen und Beschwerden, die den Alltag mit Schmerz erfüllen und Patienten oft eine Odyssee von Arzt zu Arzt durchleben lassen, ohne dass ihnen nachhaltig geholfen werden kann. Jedes Organ, jeder Nervenstrang ist umhüllt von einem Netz aus Faszien. Wer sich schon einmal in eine zu enge Hose, einen eingelaufenen Pulli oder zu kleine Schuhe gequetscht hat, kann sich leicht vorstellen, wie es im Körperinneren aussieht, wenn das Bindegewebe zusammenschnurrt. Genau an diesem Punkt greift Stefanie Arend ein.

Sie ist Yin-Yoga-Expertin, bildet Lehrer auf dem Gebiet aus, gibt selbst Kurse und arbeitet mittlerweile an ihrem sechsten Buch zu diesem Thema. Die Übungen, die sie anbietet, hören sich unspektakulär an, sind aber umso wirksamer. Der erste Eindruck ist "Och, total einfach". Wer's tut, der erinnert sich ziemlich schnell an Arends Worte: "Der Schmerz darf nicht stechend, sondern muss flächig sein. Man merkt ganz langsam, da tut sich was."

Lange Zeit unterschätzt

"Das Bindegewebe wurde über Jahrzehnte unterschätzt", so Robert Schleip, "man sprach lieber von der Leber und nicht von der Hülle, die die Leber umgibt." Der Durchbruch für die Faszien und für Schleip kam 2007 beim "1. Fascial Research Congress" an der Harvard Medical School in den USA, den Schleip zusammen mit zwei anderen Wissenschaftlern und mit Unterstützung des US-Gesundheitsministeriums realisierte. Heute wissen Mediziner, dass beispielsweise zahlreiche Ursachen für Rückenschmerzen oftmals darin begründet sind, dass die Faszien sich verdickt haben und Muskeln und Gewebe zusammengepappt sind.

Stefanie Arend machte genau diese Erfahrung selbst. Zwölf Jahre hatte sie Kampfsport trainiert, ausgerichtet auf Schnelligkeit und Dynamik.

Fast wöchentlich war sie beim Orthopäden, um sich Spritzen gegen ihre Rückenschmerzen setzen zu lassen. Schon mit Anfang 30 hatte sie einen Bandscheibenvorfall. "Meine eigene Leidensgeschichte hat mich zu Yin-Yoga gebracht." Gelernt hat sie diese Technik der sanften Therapie beim US-Amerikaner Paul Grilley. Die Übungen sind für Männer und Frauen gleichermaßen geeignet. Für Männer schon deshalb, weil "zu viel Muskeltraining die Faszien überstrapazieren kann", so Arend, "und wenn die Faszien nicht mehr dehnbar sind, kann der Muskel auch nicht wachsen". So ab 35 wird das meist akut.

Keine artgerechte Haltung

Nicht, weil erst dann die Verfilzung und Verklebung des Bindegewebes einsetzt. Auch der jugendliche Körper kennt diese Beschwerden aufgrund von Fehlhaltungen, "aber er packt das noch gut weg". Später nicht mehr.

Der Grund für die mannigfaltigen Probleme im Nacken, an den Schultern, Knien, Füßen, im Rücken und den inneren Organen - Darm inklusive - liegt laut Robert Schleip an "der nicht artgerechten Haltung des Menschen". Der studierte Psychologe, Experte auf den Gebieten der Körpertherapie und Feldenkrais-Methode verordnet Kindern und Erwachsenen am liebsten "Affengymnastik". Eine Bewegungsart, die er selber praktiziert: "Purzelbäume schlagen, auf den Boden legen, hocken, kurz sprinten, hüpfen und dann auf die faule Haut legen. Ich gehe am liebsten auf einen Kinderspielplatz und hangel mich da von Gerät zu Gerät."

Der Erfolg ist sichtbar. Schleip ist 61, hat kein Gramm Fett zu viel, ist elastisch in seinen Bewegungen. "Alter macht man weniger an den Gesichtsfalten fest als am Gang. Man bewegt sich genau so, wie die Faszien sind. Gehen ist weniger eine muskuläre, sondern primär eine fasziale Federung." Tanzen fördert diese Elastizität, Radfahren dagegen kaum.

Gymnastik kann Wunder wirken

Wenn es nach Schleip ginge, würde er der Mehrheit der Menschen die in Vergessenheit geratene Rhythmische Gymnastik verordnen: "Heute weiß man, dass dies dem Bindegewebe außerordentlich gut tut." Schleip weiter: "Wer nur die Muskeln trainiert, dessen Faszien können trotzdem eng und spröde werden. Unser Körper braucht den federnden Gazellen-Effekt." Um einmal verfilztes Bindegewebe zu reaktivieren, muss man schon drei bis sechs Monate Geduld mitbringen. Genauso lange dauert es auch, das sensible Netz der Faszien durch Vernachlässigung zu schädigen. Wer sich drei Monate lang lümmelt und nur sporadisch bewegt, dessen Achillessehne wird fühlbar spröde. Wer über eine "frozen shoulder" klagt, eine schmerzhafte, steife Schulterpartie, kann sicher sein, dass 30 Prozent seines Bindegewebes im Schulterbereich zusammengeschnurrt sind. Wer sich vornüber beugt und mit den Händen nicht mehr den Boden berühren kann, dessen rückseitige Beinfaszien haben ihre Elastizität längst eingebüßt. Das gilt dann meist auch für deren Plantarfaszie - also die Sehnenplatte unter dem Fuß. Schleip und Arend: "Narbengewebe sollte unbedingtbearbeitet, gedehnt und mit den Fingern massiert werden. Oder aber man nimmt die Hautfalte in die Hand, rollt sie oder zieht Schröpfgläser über die Narbenfläche."

Robert Schleip: "Faszien sind ein Sinnesorgan. Wenn die Faszien in Ordnung sind, fühle ich mich in meinem Körper zu Hause. Wenn sie verklebt sind, ist mir unwohl."

Seit einigen Jahren, so der Experte, der in München beheimatet ist und in Ulm sein Forschungslabor hat, lassen sich Bindegewebsdefekte sowohl mit Ultraschall erkennen als auch mit den Händen erspüren. "Vorausgesetzt, man hat ein gutes Feeling in den Händen. Beide Untersuchungsmethoden können dann ungefähr gleich gut und erfolgreich sein."

Nicht nur Wissenschaftler, Mediziner und Therapeuten haben die Bedeutung der Faszien erkannt, sondern auch die Bodybuilder, so Schleip. "Deshalb füttern sie sich mit Gelatine, also gekochtem Bindegewebe. Sie könnten genauso gut Wackelpudding essen, aber das ist in den Kreisen nicht so angesagt. Also packt man die Gelatine in Kapseln und verabreicht sie den Bodybuildern, die damit versuchen, die sichtbare Spannkraft ihrer Muskelhüllen zu erhöhen."

Kleine Übungen

Bei Schmerzen im Nacken und Schulterbereich rät Yin Yoga-Expertin Stefanie Arend: "Die Wirbelsäule ohne Muskelanspannung rund werden lassen. Nacken und Kopf nach vorne beugen und einige Minuten die Stellung halten." (Achtung: nicht bei akutem Bandscheibenvorfall)

Magenbeschwerden können Anzeichen einer Blockade des Magen-Meridians sein. Arend: "Mit dem Rücken auf ein paar Kissen legen und ohne Muskelanspannung leicht nach hinten überstrecken." (mas)

Je regloser, desto mehr Kristalle

Faszien vergleicht Biologe Robert Schleip auch gerne mit Netzstrümpfen: "Im Alter verspröden die Faszien, folglich werden wir immer knuspriger, je älter wir werden." "Das englische Wort AGE wie Alter steht für Advanced Glycation End-Product", so Schleip weiter. "Es bilden sich Kristalle. Je regloser ich bin, desto mehr Kristalle bilden sich. Ab einer bestimmten Menge und einer bestimmten Verfestigung des Gewebes sind die Schäden irreparabel."

Wären Menschenfresser noch unsere Nachbarn, "hätten sie großen Genuss an gebratenen menschlichen Leckerbissen mit vielen Kristallen. Solche Körper wären in der Tat schmackhafter als die durch und durch elastischen Körper der sich gesund bewegenden Menschen", sagt Schleip, der sich seit 35 Jahren mit Faszien befasst. (mas)