ErnährungstrendWas bedeutet intuitives Essen und was bringt es?
Mareike Christina Awe ist Medizinstudentin am Uniklinikum Düsseldorf und Gründerin der Plattform intueat.de. Michael Aust hat mit ihr über Intuitives Essen gesprochen.
Frau Awe, Sie bieten Online-Kurse zum Intuitiven Essen an. Aber warum sollte man das lernen: Essen wir nicht ohnehin intuitiv und ohne groß nachzudenken?
Sie haben recht: Wir sind alle als intuitive Esser geboren. Unser Körper ist dazu veranlagt, das Essen selbst zu regulieren - genau wie den Herzschlag und unsere Atmung. Als Kinder können wir das alles, bloß hören wir damit oft später irgendwann auf.
Was verstehen Sie denn genau unter intuitiv?
Dass man isst, wenn man hungrig ist, und nur das, was einem schmeckt und gut tut. Dass man genussvoll ist und aufhört, wenn man satt ist. Zusammengefasst: Dass man beim Essen nur auf seinen Körper hört.
Und warum haben das viele verlernt?
Weil Essen im Laufe des Erwachsenwerdens mit immer mehr Regeln überfrachtet wird, die uns diese einfachen Mechanismen leicht übersehen lassen. Ein Baby schreit, wenn es Hunger hat, und trinkt nicht mehr weiter, wenn es satt isst. Versuchen Sie mal, ein Kleinkind zu füttern, das keinen Hunger hat - es wird nicht gelingen. Aber wenn das Kind älter wird, hört es immer mehr Regeln, die sein Essverhalten beeinflussen: Iss deinen Teller leer. Du darfst das Haus nicht ohne Frühstück verlassen. Oder: Nur wenn du das Gemüse aufisst, bekommst du Nachtisch. Als Erwachsener kommen dann gesellschaftliche Vorstellungen von gutem oder gesundem Essen hinzu.
Welche Folgen hat das?
Eine Folge ist: Man isst in der Regel mehr, als man bräuchte - und nimmt am Ende zu. Jeder zweite Deutsche ist übergewichtig. Viele sehen dann paradoxerweise die Lösung dafür in einer Diät. Und das, obwohl Diäten einen noch mehr dazu konditionieren, auf Regeln statt auf den Körper zu hören. Kein Wunder, dass laut Studien fast alle Diäten nicht funktionieren.
Aber intuitives Essen ist doch irgendwie dann auch eine Art Diät.
Ich würde sagen: Intuitive Essen ist das Gegenteil einer Diät. Es beginnt innen, nicht außen: Man hört nicht mehr auf äußere Regeln, sondern auf die Signale des Körpers.
Aber warum braucht man dazu dann Hilfe von außen? Es ist doch eigentlich leicht herauszufinden, ob man hungrig ist oder nicht.
Das sollte man meinen. Es ist allerdings so, dass über 90 Prozent unserer Entscheidungen im Unterbewusstsein getroffen werden. Das heißt: Wie die Technik, mit der man sich die Schuhe zubindet, ist auch unser Essverhalten unterbewusst festgelegt. Und wenn man sich antrainiert hat, bei Stress zu essen, ist das sehr schwer zu ändern. Hinzu kommt: Vielen fällt es schwer, die Signale ihres Körpers überhaupt zu hören. Wenn Sie sagen, es ist so einfach, dann sind Sie vermutlich schon ein intuitiver Esser. Viele Menschen können aber überhaupt nicht mehr spüren, ob sie Hunger haben und wann sie genug haben.
Wie helfen Sie diesen Menschen?
In unserem Online-Programm bekommen die Teilnehmer wöchentliche Lektionen, in denen ihnen die Grundsätze des intuitiven Essens erklärt werden, zum Beispiel die verschiedenen Arten von Hunger. Dazu gibt es täglich über 16 Wochen lang ein mentales Audio-Training, das fünf bis 20 Minuten dauert. Letzteres basiert auf der Idee der Neuroplastizität: Wenn wir etwas gedanklich einüben, ändern sich auch die Nervenbahnen im Gehirn. Wie Trampelpfade, die langsam breiter werden.
Welche verschiedenen Arten von Hunger gibt es denn? Und woran erkenne ich einen "echten"?
Den "echten" nennen wir in unserem Programm den körperlichen Hunger. Den spürt man daran, dass er geduldig ist. Er kommt nicht von jetzt auf gleich, sondern wird nach und nach stärker, wenn man ihn beachtet. Und er kündigt sich mit einem körperlichen Signal an: Man spürt, wie der Magen grummelt oder knurrt oder wie man sich schwächer fühlt. Außerdem ist er der einzige Hunger, der durch Essen befriedigt werden kann. Isst man dagegen aus Stress, wird man nicht satt, denn der Stress wird durchs Essen nicht gelöst.
Welche anderen Arten von Hunger gibt es?
Den Geist-Hunger und den Sinnes-Hunger. Letzterer bezieht sich auf unsere Essenssinne Augen, Nase und Mund. Er unterstützt das intuitive Essen, weil die Sinne das Essen verstärken, wenn man wirklich körperlich hungrig ist: Essen schmeckt dann viel besser und riecht intensiver.
Und Geist-Hunger dagegen ist falscher Hunger?
Genau, aus dem heraus sollte man nicht essen. Vom Geist-Hunger gibt es viele Unterarten, eine ist der sogenannte Verzicht-Hunger. Der entsteht, weil man auf etwas verzichtet. Immer, wenn man eine Diät macht, meldet er sich: Man denkt, ich darf keine Schokolade oder keine Kohlenhydrate essen, und bekomme just Heißhunger darauf. Dieser Hunger löst sich, indem man sich selbst die Erlaubnis gibt zu essen, was einem guttut.
Es kommt aber schon darauf an, was man isst - Salat ist im Zweifel doch besser zum Abnehmen geeignet als Schokolade. Oder?
Die Pointe ist: Unsere Teilnehmer berichten, dass sie gar nicht mehr so viel Lust auf Schokolade haben, wenn sie sich diese nicht mehr verbieten. Unser Körper will uns nichts Böses. Wenn wir gelernt haben, ihm zu vertrauen, wird der Verzichthunger aufhören. Eine Teilnehmerin hat sich zum Beispiel am Anfang des Kurses eine riesige Tafel Schokolade in den Kühlschrank gelegt. Nach eigenen Angaben war sie vorher ein Schoko-Junkie und hätte die Tafel normalerweise spätestens nach zwei Tagen aufgegessen. Doch sie berichtete, bis zum Ende des Programms nicht mal ein Viertel der Tafel gegessen zu haben - einfach, weil sie es durfte und es plötzlich gar nicht mehr wollte. Der Körper hat ein Gespür für das richtige Maß, und es wird einem nicht mehr schmecken, wenn man es nicht mehr braucht. Dafür muss man allerdings Achtsamkeit lernen und auf seinen Körper hören.
Für Menschen, die kein Online-Programm absolvieren wollen: Haben Sie Tipps, worauf man beim intuitiven Essen achtet?
Erstens: Iss, wenn du hungrig bist. Man muss also nicht hungern. Zweitens: Iss, was dir schmeckt und gut tut. Nicht das, was du meinst, dass dir gut tut, sondern das, was der Körper will. Tipp drei: Genieße dein Essen bewusst. Und: Hör auf, wenn du satt bist.
Buchtipp zum Thema
Achtsamkeit und die Kunst des bewussten Essens, Beate Çaglar, Integral Verlag, 207 Seiten, 19,99EUROKernaussage: Bewusstes Genießen führt zu innerer Ruhe, Gesundheit und Lebenskraft.Bewusstes Essen eröffnet in unserem hektischen Alltag einen genussvollen Weg, um unser Leben wirksam zu entschleunigen und unsere Gesundheit zu fördern. Essen soll als Freude empfunden werden, die Körper, Geist und Seele gleichermaßen gut tut. Körper und Geist sollen wieder zusammen geführt und so Energie geschaffen werden. Die Autorin möchte zeigen, wie krank machendes Stress-Essen vermieden werden kann. Regel Nummer 1 für achtsame Ernährung: "Essen Sie nur, wenn Sie hungrig sind und hören Sie auf, wenn Sie satt sind." Das Buch bietet viele Achtsamkeits-Übungen. So soll man zum Beispiel kurz innehalten, wenn man beschlossen hat, das nächste Mal etwas zu essen und sich fragen, warum man das tun will, ob man tatsächlich Hunger oder nur Langeweile hat.
Wenn es kein echter Hunger ist, sollte man versuchen, das wirkliche Bedürfnis zu entdecken und zu befriedigen. Eine weitere Übung beschäftigt sich mit der Frage, warum wir glauben, Süßigkeiten essen zu müssen. Zudem soll man beim Essen ganz genau darauf achten, wann man satt ist und dann sofort aufhören, egal, wie viel noch auf dem Teller liegt. Als praktische Hilfe gibt es in dem Buch noch 50 vegetarische und vegane Rezepte.
Weitere Infos zum Thema intuitives Essen
Wie Essen, Achtsamkeit und Bauchgefühl zusammenhängen, ist inzwischen gut erforscht. Wer sich die Methode selbst beibringen will, findet Tipps zum Beispiel in folgendem Ratgeber:Elyse Resch und Evelyn Tribole: "Intuitiv abnehmen: Zurück zu natürlichem Essverhalten" , Goldmann, 448 S., 9,99 Euro
Anleitung und Unterstützung bekommt man auch in dem Online-Kurs Intueat. Das 16-wöchige-Programm kostet 379 Euro, ein Schnuppermonat 99 Euro: