Einzigartiges Verfahren fürs AugeZurück zur Sehkraft mit Implantaten aus Stammzellen

Das Transplantat ist so groß wie eine Euro-Münze.
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- Hornhaut-Transplantationen können schon seit längerem zu mehr Sehkraft verhelfen
- Doch dieser Fall ist ein Meilenstein, denn das Implantat besteht aus eigenen Stammzellen
Köln – Unser Fenster zur Welt ist eine durchsichtige Scheibe: Die Hornhaut sitzt vorne auf der Oberfläche des Auges. Sie ist etwas gewölbt und hat einen Durchmesser von zwölfmal elf Millimeter und eine Dicke von 0,52 Millimeter im Zentrum beziehungsweise 0,67 Millimeter am Rand. Dieser Winzling besitzt Superkräfte, die uns gutes und scharfes Sehen ermöglichen. Die Hornhaut ist fest, glatt und klar. Sie wirkt wie eine Sammellinse, durch die die Lichtstrahlen ungehindert in das Auge und zur Netzhaut gelangen. Die Zellen ihrer ersten von insgesamt fünf Schichten erneuern sich ständig und heilen bei Verletzungen wieder zu. Kleine Blessuren steckt die Hornhaut weg. Bei einer Schädigung gerät dieses System aus den Fugen.
So wie bei Michael Schygulla. Der 25-Jährige arbeitete als Oberflächenbeschichter in einem Galvanikwerk in Solingen. Nach einem Arbeitsunfall war er auf dem rechten Auge blind. Chromsäure geriet in das Auge und verätzte die Hornhaut . Das ist drei Jahre her. Seit einigen Monaten ist Schygulla nicht mehr blind. Im April wurde er von Professor Norbert Schrage, Chefarzt der Augenklinik in Merheim, erfolgreich operiert. Die Sehkraft des verletzten Auges liegt momentan bei 16 Prozent. „Meine Situation hat sich ein wenig verbessert. Aber das ist nur ein kleiner Schritt. Der Weg ist noch weit. Mein Ziel ist es, auf beiden Augen wieder zu 100 Prozent sehen zu können.“ Der junge Mann hat eine neue Hornhaut bekommen. Derartige Transplantationen zählen mittlerweile zu den Standardeingriffen am Auge. Dennoch markiert die Operation von Michael Schygulla einen Meilenstein.
Zur Person
Professor Norbert Schrage ist seit 2004 Chefarzt der Augenklinik im Krankenhaus Merheim. Der 57 Jahre alte Familienvater studierte Medizin in Köln und Aachen. 2002 wurde er zum außerplanmäßigen Professor der RWTH ernannt. (mos)
Vor der Transplantation der fremden Hornhaut wurde dem Verletzten ein Implantat eingesetzt, das aus seinen eigenen Stammzellen gezüchtet wurde. Es handelt sich dabei um das Epithel, jene Schicht der Hornhaut, die für die Zell-Erneuerung verantwortlich ist. Das Verfahren ist in Europa einzigartig. „Wir sind hier die erste Klinik, die dies klinisch anwendet“, sagt Schrage. Dabei arbeitet die Kölner Klinik eng mit dem Labor des italienischen Pharma-Unternehmens Chiesi zusammen. „Das Labor hat seinen Sitz in Modena. Nur die Arbeitsgruppe um Biologin Graziella Pellegrini und Augenarzt Paolo Rama besitzt die Zulassung, um die Implantate außerhalb der Zulassungsstudie zu transplantieren.“
Plan B ist für den Körper fatal
Warum braucht man überhaupt dieses zusätzliche Implantat? Reicht es nicht, die Hornhaut eines Spenders zu transplantieren? Die Antwort erschließt sich, wenn man die Alternativen und die Rolle der Stammzellen betrachtet. Die tief im Gewebe liegenden Stammzellen steuern die Regeneration der Hornhaut, die Reproduktion des Epithels. Kommen diese Stammzellen zum Erliegen, typischerweise nach schweren Verätzungen oder Verbrennungen am Auge, tritt automatisch eine Art Plan B in Kraft. Der ist für das klare Sehen fatal. „Der Körper wirft einen Reparaturmechanismus an. Vom Weißen des Auges, von der Bindehaut, wachsen die Zellen auf die Hornhaut. Da die Bindehaut Gefäße hat, wird die Hornhaut von eben diesen Gefäßen überzogen und ist nicht mehr klar. Das Sehen wird dadurch sehr eingeschränkt. Man schaut durch etwas Trübes mit Gefäßen“, erklärt Schrage. Um das zu verhindern, benötigt man nicht nur eine neue Hornhaut, sondern auch neue Stammzellen. „Bei den Spender-Hornhäuten sind die Stammzellen natürlich mit dabei. Aber die sind ja auch von einem Spender. Das Problem ist, dass diese Zellen, anders als die Hornhaut, mit den Blutgefäßen in Verbindung kommen und damit direkt dem immunologischen Angriff, also dem Freund-Feind-Prinzip, ausgesetzt sind. Der eigene Körper reagiert möglicherweise so: ,Da ist was Fremdes, das haue ich weg.’ Und damit auch die Funktion des Regenerierens. Dieses Problem hat man nicht, wenn man eigene Stammzellen nimmt.
Kosten werden in der Regel übernommen
Vor der Biopsie der Stammzellen muss eine wichtige Frage geklärt werden: Wer zahlt? Das Implantat kostet annähernd 120 000 Euro. „Da gab es bislang keine Probleme. In einem Fall hat die Kasse gezahlt, bei den anderen die Berufsgenossenschaften, die nach Arbeitsunfällen verpflichtet sind, alles für die Rehabilitation des Verletzten zu tun“, erläutert Norbert Schrage. Neben Arbeitsunfällen gibt es auch Attentate oder private Unfälle, bei denen Menschen zum Beispiel durch Säure oder Feuerwerkskörper verletzt werden. „Opfer von Gewalttaten finden teilweise Unterstützung bei den Landschaftsverbänden. Das regelt das Opferschutzgesetz.“ (mon)
Denn die sind ,Freunde’ und bleiben auch ,Freunde’“, sagt Schrage. Der 57 Jahre alte Augenchirurg und Facharzt für Augenheilkunde arbeitet seit drei Jahrzehnten auf diesem Gebiet. „Die Verätzung der Augen ist mein primäres Forschungsthema.“ In den letzten 14 Jahren wurden in den Kliniken der Stadt Köln über 1500 Patienten mit Verletzungen wie Verätzungen und Verbrennungen behandelt. „Wir arbeiten natürlich eng mit den Kollegen des Schwerbrandverletztenzentrums in Merheim zusammen. “ Seit etwa zehn Jahren beschäftigen sich Arbeitsgruppen in Europa mit dem Projekt zur Züchtung von Epithel aus körpereigenen Stammzellen. Führend auf dem Gebiet sind laut Schrage neben dem Team in Modena Gruppen in Lüttich und Antwerpen. Die Hürde ist die Zulassung, die bislang nur die Experten in Italien übersprungen haben. Zuständig ist die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) und das Paul-Ehrlich-Institut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel in Langen/Hessen. „Seit 2014 gelten die Hornhaut und die Zellzubereitung als Medikamente und werden wie Arzneimittel kontrolliert“, erklärt Schrage.

Mit kleinen Verletzungen kommt das Auge selbst klar. Mit Zell-Transplantationen sollen auch stark geschädigte Patienten wieder sehen können.
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Versuche, funktionsuntüchtige Stammzellen durch körpereigene zu ersetzen, gab es schon früher. Falls nur ein Auge betroffen war, hat man aus dem gesunden Auge ein Stückchen herausgeschnitten, auf das verletzte Auge transplantiert und gehofft, dass das anwächst. „Das hat auch bei ein paar Patienten geklappt. Ich habe damit ein Problem. Für mich ist die Handlungsfähigkeit meines Patienten das höchste Gut. Und wenn ein Auge schon so massiv geschädigt ist, noch an dem anderen herumzuschneiden – das ist schon steil.“
Noch ist die Züchtung eines Implantats und die zweistufige Transplantation eine Nische. In der Merheimer Augenklinik hat Professor Schrage seit April sechs Patienten operiert. Vier Männer und zwei Frauen im Alter zwischen 25 und 56 Jahren. Bei allen war die Hornhaut in Mitleidenschaft gezogen. Ob eine Züchtung in Frage kommt, hängt davon ab, ob nach dem Unfall noch Stammzellen da sind. Für deren Entnahme braucht die Klinik eine Genehmigung. Die erteilt die Bezirksregierung. „Eine wichtige Voraussetzung war, dass wir eine Hornhautbank haben.“ Diese sogenannte „Cornea Bank Cologne“ – Cornea gleich Hornhaut – verwaltet Spenderhornhäute und Informationen über die Patienten, die auf ein Transplantat warten. Hornhäute können bis zu 72 Stunden nach dem Tod eines Menschen entnommen werden. Das bedeutet, dass anders als bei Organen wie Herz, Leber oder Lunge während dieser Zeitspanne der Kreislauf des Spenders nicht aufrecht erhalten werden muss. Die Hornhäute werden in Nährlösungen kultiviert und können im Brutschrank vier bis sechs Wochen aufbewahrt werden. „Das versetzt uns in die komfortable Situation, die Operationen planen und die Patienten optimal vorbereiten zu können.“ Schrage betont, dass auch künftig die Mehrzahl der Patienten klassisch mit einem Spendergewebe behandelt werden wird. Das gilt auch für die Transplantation von fremden Stammzellen. „Wir haben etliche Patienten, die über Jahre und Jahrzehnte wieder viel besser sehen können. Aber für die Menschen, bei denen das nicht funktioniert, ist dieses Implantat eine echte Option.“
„Just-in-time“-Produktion
Ehe das aus Stammzellen rekonstruierte Hornhaut-Epithel vorliegt, durchläuft der Prozess mehrere Etappen. Anfang und Ende finden in Köln statt. „Wir kündigen den Patienten an. Das Labor in Modena muss ja Kapazitäten haben und in der Lage sein, die Probe anzunehmen.“ Wenn das alles geklärt ist, holt ein Kurier aus Modena die Probe in Köln ab. Im Labor werden die Stammzellen isoliert, angezüchtet und eingefroren. Das benötigte Implantat wird „Just-in-Time“ angefertigt, ist etwa so groß wie eine Ein-Euro-Münze und gelartig. „Wir erstellen einen OP-Korridor, planen und besprechen das Notwendige mit dem Patienten und geben dem Labor sechs Tage vor der Operation grünes Licht.“ Die Stammzellkulturen können bis zu einem Jahr aufbewahrt werden.
Nach der OP ist Geduld gefragt. Meist muss in einer zweiten Operation eine fremde Hornhaut transplantiert werden. Michael Schygulla hofft, dass es ihm rasch besser geht. „Noch ist alles recht anstrengend, aber ich fühle mich gut aufgehoben.“ In seinen alten Beruf wird er nicht zurückkehren. „Das bekomme ich nicht mehr hin.“ Er möchte auf Gas- und Wasserinstallateur umschulen.