Anti-Kita-BewegungWarum sich Eltern bewusst für eine kitafreie Erziehung entscheiden
- Seit Jahren kämpft die Politik für Chancengleichheit
- Doch eine wachsende Gruppe von Frauen entscheidet sich gegen die Kita
- Der öffentlichen Erziehung misstrauen sie. Sie nennen sich „kitafrei“
Köln – Anjo entscheidet, was er wann spielen will. Wie lange er im Schlafanzug bleiben möchte. Termin- oder Zeitdruck kennt der Vierjährige nicht. Denn anders als die meisten Gleichaltrigen geht er morgens nicht in eine Kita. Er kann mit seiner Mutter den Tag gestalten, wie die beiden mögen. Sie kochen und backen zusammen, basteln, bepflanzen das Hochbeet im Garten.
Während viele Frauen für einen Betreuungsplatz für ihr Kind kämpfen, hat sich Jamina Ehrhardt bewusst gegen frühkindliche Fremdbetreuung entschieden. „In der Kita gibt es feste Strukturen, an die sich die Kinder halten müssen. Zuhause kann Anjo in seinem freien Spiel bleiben, so lange er will“, sagt die 35-Jährige. „Ihm gefällt, dass er nirgendwo hin muss. Er soll selbst entscheiden, wann er in die Kita möchte.“
Die Politik setzt sich seit Jahren dafür ein, dass Frauen die gleichen beruflichen Chancen wie Männer bekommen, Beruf und Familie besser vereinbaren können, und steckt deshalb Millionen in den Kitaplatz-Ausbau. Jamina Ehrhardt geht einen anderen Weg. Sie gehört zu einer kleinen, aber wachsenden Gruppe von Frauen in Deutschland, die ihr Kind in den ersten sechs Jahren nicht in die Kita geben – weil sie ihre Kinder nicht vernachlässigen wollen. Der öffentlichen Erziehung misstrauen sie. Sie nennen sich „kitafrei“.
Sichere Basis von Anfang an
Jamina Ehrhardt ist es wichtig, dem Kind von Geburt an eine sichere Basis zu geben. Dazu gehören für sie: Das Kind per Hausgeburt zur Welt bringen, langes Stillen, das Kind viel und nah am Körper tragen, Schlafen im Familienbett. Und daher kann die Mutter sich im Moment nicht vorstellen, ihr Kind in fremde Hände zu geben. „Ich will nicht, dass eine Erzieherin mehr Einfluss auf mein Kind hat als ich selbst. Aber in vielen Kitas muss man Betreuungszeiten von 35 oder 40 Stunden pro Woche buchen.“ Jamina Ehrhardt findet es absurd, wenn Kleinkinder acht Stunden pro Tag in einer Kita verbringen. Das störe die Bindung zur Mutter, die erste Bezugsperson sei.
In Zahlen
Seit dem 1. August 2013 haben Eltern für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf einen öffentlich geförderten Betreuungsplatz.
Nordrhein-Westfalen ist bundesweit Schlusslicht bei der Kita-Betreuung von Kleinkindern. Die Betreuungsquote von unter Dreijährigen lag laut Statistischem Bundesamt (zum jüngsten Stichtag 1. März 2018) bei 33,6 Prozent, in NRW bei 27,2 Prozent. Die zweitniedrigste Quote hat Bayern mit 27,5 Prozent. Die höchste Quote hat Sachsen-Anhalt mit 57,1 Prozent.
Sie hat es selbst erlebt: Jamina Ehrhardt hat fünf Kinder im Alter zwischen vier und 17 Jahren. Die ersten drei Kinder gingen in die Kita, während sie ihre Ausbildung als Heilpraktikerin machte. „Das war damals in Berlin ganz selbstverständlich“, sagt sie. Rückblickend bereut sie das. „Bei meinem dritten Kind, Milan, habe ich gemerkt, dass es zu früh war.“ Als Milan in die Schule kam, habe er sich dort verloren gefühlt. Beim vierten Kind hat sie sich deshalb mehr Zeit gelassen: Sie stillte Madita, bis sie zweieinhalb war. Mit knapp drei kam sie in die Kita. Nach einem halben Jahr zog die Familie von Berlin nach Lohmar. Dort bekam sie keinen Kita-Platz. Also blieb Madita mit ihrer Mutter zu Hause – bis sie in die Schule kam. Und so möchte es Jamina Ehrhardt auch mit Anjo handhaben. Denn sie stellt einen Unterschied zwischen den beiden Jüngsten und den drei Älteren fest: „Madita und Anjo sind kreativer und sprechen mehr als ihre Geschwister im Kleinkindalter.“
Amtliche Zahlen, wie groß die Anti-Kita-Bewegung ist, gibt es nicht. Da laut Statistischem Bundesamt bundesweit 93 Prozent aller Kinder ab drei Jahren inzwischen in Kindertagesstätten gehen, dürften es weniger als zehn Prozent sein. Man findet ihre Anhänger auf Blogs wie „2KindChaos“, „Blogprinzessin“ oder „Berufung Mami“. Andere haben sich bei Facebook vernetzt. Die größte Gruppe „Kindergartenfrei.org“ zählt knapp 1700 Mitglieder. Über regionale Ortsgruppen verabreden sich kitafreie Familien zum Beispiel zu gemeinsamen Treffen. „Wir stellen einen starken Anstieg seit 2013 fest“, sagt Alexandra Traxel, eine der Initiatorinnen von Kindergartenfrei.org.
Idee der Hausfrau neu gedacht
Um so viel Zeit wie möglich mit ihren Kindern zu verbringen und , stellt auch Jamina Ehrhardt ihren Beruf hinten an. Doch sie formuliert es lieber so: „Ich vereinbare meinen Beruf mit dem Muttersein.“ Seit kurzem arbeitet sie selbstständig als Heilpraktikerin, Gestalttherapeutin, Familienaufstellerin und begleitet Frauen in der Schwangerschaft und nach der Geburt. Sie arbeitet abends, wenn ihr Mann zu Hause ist, oder berät am Telefon. Ihr Mann ist als Software-Entwickler Hauptverdiener der Familie. Manchmal passen auch die Großeltern auf die Kinder auf. Alle ihre Kinder gehen auf Regel-Schulen. Aber keines besucht den Offenen Ganztag. Zum Mittagsessen kommen sie nach Hause.
Die Idee, dass Mütter wegen der Kinder zu Hause bleiben, ist nicht neu. Früher hieß es Hausfrau. Doch anders als die Hausfrauen der 1950er-Jahre sind diese Mütter heute nicht an Heim und Herd gebunden, sondern entscheiden sich freiwillig dafür. Denn „Kinderbetreuung ist vorrangig Familienangelegenheit“ lautet einer der Leitsätze bei Kindergartenfrei.org. „Kinder werden in der Kita auf eine unnatürliche, weltfremde, homogene (im Sinne von gleichaltrige) Umgebung sozialisiert, anstatt in der Familie mit Jung und Alt aufzuwachsen“, ist in den dort aufgelisteten „Gründen für ein Leben ohne Kindergarten“ zu lesen. Sie klingen teilweise nach Kindergarten-Hölle – mit Lärm und Durcheinander, überfüllten und häufig überhitzten Räumen, Gruppenzwang und ständigen Hänseleien.
Schadet der Kita-Besuch?
Schadet ein Kita-Besuch Kindern also? Susanne Viernickel ist Professorin an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Uni Leipzig und eine der renommiertesten Kita-Forscherinnen. Sie hat zahlreiche Studien durchgeführt und sagt: Im Hinblick auf die spätere Lebenstüchtigkeit mache es keinen Unterschied, ob die Kinder in den ersten Lebensjahren zu Hause oder in einer Einrichtung betreut wurden. „Im sprachlich-kognitiven und sozial-emotionalen Bereich kann ein Besuch einer guten Kita sogar von Vorteil sein.“ Doch was macht eine gute Kita aus? Gut sei eine Kita, wenn die Erzieherinnen sich mit der kindlichen Entwicklung auskennen, wenn sie wissen, wozu kleine Kinder fähig sind, was sie denken und fühlen. Außerdem hilft eine gute Kita den Kindern dabei, die Trennung von den Eltern zu verkraften. Es sollte eine Bezugsperson da sein, zu der die Kinder Vertrauen aufbauen und die Sicherheit, Unterstützung und Trost gibt, wenn es notwendig wird.
Aber haben umgekehrt die Kinder, die zu Hause betreut werden, später Nachteile? „Kommt drauf an“, sagt die Expertin. Wenn die Mütter sich um ihre Kinder zu Hause aktiv kümmern, für Anregung und Abwechslung sorgen, habe sie aus wissenschaftlicher Sicht keine Bedenken. Zwar sei belegt, dass schon Zwei- oder Dreijährige von der Interaktion miteinander profitieren, indem sie lernen, die Absichten des anderen zu erkennen und sich auf ihn einzustellen. Aber das sei nichts, was man mit vier oder sechs Jahren nicht nachholen könne. „Ich kann mir allerdings vorstellen, dass Kinder, die keine Kita besucht haben, in den ersten Schuljahren größere Anpassungsleistungen vollbringen müssen, um sich in die Gruppe einzufügen.“
Regelmäßige Treffen mit anderen Eltern
Solche Bedenken kennt Jamina Ehrhardt: „Bei Madita hatte ich vor der Einschulung schon Bedenken, ob das klappt. Aber sie ist sehr selbstbewusst und hat durch ihre sichere Bindung auch ein großes Selbstvertrauen entwickelt. Deshalb kommt sie in der Schule super klar.“ Der Fünffach-Mutter waren immer schon Treffen mit anderen Kindern und Müttern wichtig. Und auch mit Anjo geht sie regelmäßig ins Eltern-Kind-Café. Da er mit vier Geschwistern aufwächst, wird er automatisch in einem Gruppengefüge groß.
Als junge Mutter in Berlin hat Jamina Ehrhardt erlebt, dass es normal ist, Babys schon sehr früh abzugeben. Man werde regelrecht unter Druck gesetzt, so schnell wie möglich wieder zu arbeiten. Sie wünscht sich, dass Frauen wählen können, ob sie zu Hause bleiben wollen. Viele hätten diese Wahl aber aus finanziellen Gründen nicht. „Das Geld, das den Staat ein Kitaplatz kostet, könnte er ja auch den Familien zur Verfügung stellen, die ihr Kind zu Hause betreuen“, schlägt sie vor. „Jede Mutter sollte eine Wahlfreiheit haben, wo sie ihr Kind erzieht.“ Sie rät Frauen, stärker auf ihre innere Stimme zu hören und sich nicht unter Druck setzen zu lassen.
Den Druck, das Kind schon früh abzugeben, hat auch Jennet Blümel gespürt. Schon während der Schwangerschaft wurde sie gefragt, wann sie nach der Geburt wieder arbeiten werde. „Da wusste ich doch noch gar nicht, wie mein Kind sein wird und wie es überhaupt ist, Mutter zu sein“, sagt die Medizinische Fachangestellte. „Ich wollte nicht schon überlegen, wann ich meinen Sohn wieder abgebe, bevor der überhaupt geboren war.“
Inzwischen ist Matheo eineinhalb. Und Jennet Blümel hat ihn in einem Waldkindergarten angemeldet. Aber ob er wirklich hingeht, lässt sie offen. „Wir werden es ausprobieren, wenn Matheo drei ist. Wenn es ihm gefällt, geht er vormittags hin, wenn nicht, melde ich ihn wieder ab.“ Mehr als 20 Stunden pro Woche plant die 29-Jährige ohnehin nicht zu arbeiten. Und sollte es eben mit Matheo und dem Kindergarten nicht passen, dann bleibt sie doch länger zu Hause. „Wir wollen sowieso noch ein zweites Kind.“
Stabile Bindung zum Kind aufbauen
Familie Blümel ist vor einem Jahr von Mönchengladbach aufs Land gezogen – samt Katze und Hund in ein eigenes Haus mit Garten nach Hückelhoven. Seit Matheo ein Jahr alt ist, arbeitet Jennet Blümel auf 450-Euro-Basis sonntags im Labor. Dann ist ihr Mann zu Hause. Der Job macht ihr Spaß. „Und ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben, weil ja mein Mann bei Matheo ist“, sagt sie. Fremden würde sie ihren Sohn nicht anvertrauen wollen: „Die Erzieher können noch so gut sein, aber es sind eben nicht ihre eigenen Kinder, die sie betreuen. Und ich weiß einfach nicht, was passiert, wenn ich nicht dabei bin. Matheo ist noch zu klein, um mir das zu erzählen.“ Wenn er drei Jahre alt ist, traut seine Mutter ihm das hingegen zu. „Vorher würde ich ihn nicht abgeben.“ Bis dahin setzt sie vor allem auf eine stabile Bindung zu ihrem Kind. „Außerdem möchte ich nicht so viel von ihm verpassen.“ Dass andere Mütter einen anderen Weg wählen, respektiert Jennet Blümel: „Jeder sollte es so machen, wie es für ihn und sein Kind richtig ist.“ Sie kann aber verstehen, wenn Mütter aus finanziellen Gründen ihr Kind „fremdbetreuen“ lassen, vor allem wenn sie alleinerziehend sind.
Doch wie sieht es mal mit der Altersversorgung aus, wenn die Mütter lange Zeit gar nicht oder nur wenig arbeiten? Die Lüneburger Finanzexpertin Annette Mücke, die selbst drei Kinder großgezogen hat, berät seit vielen Jahren Frauen zur Altersvorsorge. Sie hat dabei festgestellt, dass es vor allem bei jungen Frauen eine Sehnsucht nach der traditionellen Mutterrolle gibt. „Wenn man das will, sollte man gemeinsam mit dem Partner überlegen, worauf man sich einlässt, denn eine solche Entscheidung wirkt sich über Jahrzehnte aus“, sagt sie. Um die Ausfälle zu kompensieren, sollten die Rentenbeiträge – wenn es geht – auch während der Auszeit weiter freiwillig gezahlt werden, aus dem Familieneinkommen, rät die Finanzexpertin .