„Horizon Forbidden West“Selbstbewusste Heldin kämpft sich durch cleveres Videospiel
Weibliche Helden waren in Videospielen bisher die Ausnahme. Doch in der Branche findet gerade ein Umdenken statt. In „Horizon Forbidden West“ muss die junge Kriegerin Aloy die Welt retten – vor allem vor der Ignoranz ihrer Mitmenschen, die nicht begreifen, dass der Untergang ihrer Welt auch ihr eigener sein wird.
Man kann gar nicht anders als diese fantastische Szenerie zu bewundern, dieses sich mit den Tageszeiten verändernde Spiel von Licht und Schatten. Angesiedelt irgendwo zwischen Mittelalter, Wildem Westen und „Avatar“, lädt die Welt dazu ein, erkundet zu werden, um ihre Geheimnisse zu enthüllen. Doch die riesige Spielwelt ist bevölkert von drachenartigen Maschinenwesen und verfeindeten Stämmen. Und sie wird von einer geheimnisvollen Seuche heimgesucht, die sich unaufhaltsam ausbreitet und Quadratkilometer für Quadratkilometer zu verschlingen droht. Zum zweiten Mal liegt alle Hoffnung auf der jungen Kriegerin Aloy. Als Klon einer visionären Informatikerin, die vor mehr als 1000 Jahren lebte, weiß nur sie um verborgene Datennetze, die ihre Welt zusammenhalten und zugleich bedrohen.
Krieg von Künstlichen Intelligenzen
Im ersten Teil mit dem Titel „Zero Dawn“ ist Aloy von einer Ausgestoßenen zur „Retterin“ geworden, der man überall mit Hochachtung begegnet. Doch natürlich hat sie auch dunkle Mächte gegen sich aufgebracht, denen sie sich nun abermals stellen muss. Die Vorgeschichte wird in der ersten Stunde von „Horizon Forbidden West“ praktisch im Zeitraffer erzählt, sodass man auch ohne Kenntnisse des Vorgängers ins Abenteuer eintauchen kann. Alles dreht sich um den Krieg zweier künstlicher Intelligenzen namens GAIA und HADES. HADES war einst Teil von GAIA, geriet aber außer Kontrolle und ist nun dabei, die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit zu zerstören. Der ewige Kampf zwischen Gut und Böse wird in „Horizon“ von IT-Systemen ausgetragen. Die Rettung liegt, wie könnte es in der Welt des Digitalen anders sein, in einem Backup, das Aloy im titelgebenden „Verbotenen Westen“ auftreiben muss.
Dass der Ruhm ihr vorauseilt, ist nicht immer von Vorteil. Sehr gelungen wird Aloys Unbehagen an diesem Heldenkult thematisiert, hinter dem oft genug Missgunst und Verrat lauern. Doch sie kann die Vergangenheit nicht ruhen lassen, wenn die Menschheit noch eine Zukunft haben soll. Eine zentrale Botschaft der „Horizon“-Reihe ist die Erkenntnis, dass eine Rückkehr in die vermeintlich heile Welt der Jäger und Sammler nicht mehr möglich ist. In die Unschuld vordigitaler Zeiten, an der ohnehin gezweifelt werden darf, führt kein Weg zurück.
Nun ist die Heldin abermals allein unterwegs, ihr männlicher Begleiter verabschiedet sich nach dem rund einstündigen Prolog. Unterwegs bekommt sie es mit unbelehrbaren Gelehrten, ohnmächtigen Machthabern und korrupten Lokalfürsten zu tun, die die Welt lieber zugrunde gehen lassen, als auf ihre Privilegien zu verzichten. Klassische Rollenmuster werden gegen den Strich gebürstet, Klischees lustvoll demontiert. So ergehen sich nicht wenige der „starken“ Männer, denen Aloy begegnet, in Selbstmitleid und Resignation, einer ihrer furchterregendsten Gegner ist die Anführerin eines feindlichen Stammes, während zwei resolute Schwestern, die auch aus einem Quentin-Tarantino-Film stammen könnten, für Konstruktion raffinierter Waffensysteme aus den Bauteilen erlegter Robo-Dinos zuständig sind.
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„Horizon Forbidden West“ ist ein Beleg dafür, dass das in Videospielen vermittelte Frauenbild sich gerade stark verändert. Den Herstellern ist nicht entgangen, dass das Interesse an Videospielen, wie etwa der Branchenverband Bitkom feststellt, zwischen Frauen und Männern mittlerweile nahezu gleich verteilt ist. Den Weg dafür bereiteten Figuren wie Lara Croft oder die Raumreisende Samus Aran aus Nintendos „Metroid“-Reihe. Sie gehörten zu den ersten Frauenfiguren, die ohne maskuline Unterstützung zurechtkamen. Während ihr Raumanzug Samus fast geschlechtsneutral erscheinen ließ, waren frühe Versionen der schlagkräftigen Archäologin Croft eher als Augenfutter für die männliche Klientel konzipiert. Erst mit der Neukonzeption der „Tomb Raider“-Reihe im Jahre 2013 wurde ihr eine Persönlichkeit zugesprochen, indem man ihren Weg von der jugendlichen Forscherin zur resoluten Heldin nachzeichnete.
Charaktere, wie sie etwa in der Adventure-Reihe „Life is Strange“ auftreten, wären jedenfalls noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Im jüngsten Teil mit dem Titel „True Colors“ ist es eine junge asiatisch-amerikanische Frau namens Alex Chen, die ihre Kindheit in Heimen und Pflegefamilien verbracht hat. Typisch für die „Life is Strange“-Spiele ist, dass die Hauptfiguren eine übernatürliche Gabe besitzen. Bei Alex ist es die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen: Empathie und Inklusion als Superkräfte. Der Krimiplot tritt in den Hintergrund zugunsten emotionaler Entscheidungen wie jener, ob man eine romantische Beziehung zu anders- oder gleichgeschlechtlichen Charakteren aufbauen will. „Life is Strange“ gilt als erste Spielreihe, die queere Protagonisten in den Fokus stellt.
Anleihen an klassische Vorlagen
In einer Situation, in der solche Spiele nicht nur möglich, sondern auch erfolgreich sind, kann sich „Forbidden West“ größeren Zielen widmen als dem Geschlechterkrieg. Wer mag, kann Anleihen an klassische Vorlagen wie den Luzifer-Mythos finden oder Aloys Feldzug mit dem Kampf gegen den Klimawandel in Verbindung bringen. Ihre größten Gegner sind nicht HADES oder die Maschinenwesen, es ist die Ignoranz ihrer Mitmenschen, die nicht begreifen, dass der Untergang ihrer Welt auch ihr eigener sein wird. Das Spiel schlägt damit in die gleiche Kerbe wie der Netflix-Hit „Don't Look Up“. Mit der „Horizon“-Reihe beweist Hersteller Sony eindrucksvoll, dass gute Videospielunterhaltung nicht auf Kosten intelligenter Inhalte gehen muss – und schon gar nicht auf Kosten einzelner Bevölkerungsgruppen.
„Horizon Forbidden West“ (Guerrilla Games / Sony) erscheint am 18. Februar exklusiv für PlayStation 4, PlayStation 5, von USK ab 12 Jahren freigegeben und kostet rund 80 Euro.