Dem Leben auf der Spur: Norbert Scheuers Roman „Mutabor”
Berlin – Er findet den Mythos im Alltag, das Erhabene im Profanen: Für den 1951 geborenen Autor Norbert Scheuer ist das unauffällige Städtchen Kall in der Nordeifel längst zur großen Weltbühne geworden. Mit Romanen wie „Überm Rauschen”, „Am Grund des Universums” oder zuletzt „Winterbienen” erkundet der Romancier Scheuer anhand verzweigter Familiengeschichten sein „Urftland” immer wieder neu.
Diese Expeditionen reichen bisweilen bis tief in die Vergangenheit hinein. Und werden wie im Fall der realen Hochwasser-Katastrophe im letzten Jahr, die auch Kall heimgesucht hat, immer wieder von einer bitteren Gegenwart eingeholt.
In seinem neuen Roman „Mutabor” erzählt Scheuer die oft rätselhafte Geschichte der Außenseiterin Nina Plisson, die ohne Eltern aufwächst, von Sozialarbeitern eher lieblos betreut wird und von einem Aufbruch aus der kalten Eifel träumt.
In Rückblenden erinnert sich Nina an ihre verschwundene Mutter, oder an die abenteuerlichen Fahrten mit ihrem Großvater in einem schrottreifen Opel Kapitän. Bei diesen wilden Ausflügen kann sich das vernachlässigte Mädchen fortträumen aus der tristen Realität, bis ins sagenhafte Byzanz, wo Großvater im Zweiten Weltkrieg mit einem U-Boot aufgetaucht ist. Bis heute schwärmt er von der Stadt mit ihren Moscheen und Bauwerken, und macht seiner Enkelin weis, sie sei dort in einem Palast geboren worden.
Erinnerung und Einbildung fließen in diesem kunstvoll komponierten Roman ineinander: Wie in Wilhelms Hauffs Märchen „Kalif Storch”, das als Anspielungsfolie dient, will sich die Protagonistin verwandeln und am liebsten davonfliegen. Nur das Zauberwort „Mutabor” will ihr einfach nicht einfallen. Dabei ist sie ihrem eigenen Leben wie eine Detektivin auf der Spur, auch mit Hilfe der Literatur. Sie liest Romane von Virginia Woolf, und hört vom griechischen Kneipenwirt Evros unglaubliche Geschichten von der antiken Dichterin Sappho.
Verwandlung ist das Leitmotiv in diesem Roman, der sich aus kurzen, manchmal nur zwei oder drei Seiten langen Fragmenten zusammensetzt. Zwischen diese Erinnerungssplitter sind kurze beschriftete „Bierdeckel” aus der Feder von Evros gestreut, kleine Mythen-Beschwörungen, die das Fernweh befeuern. Und zu jedem „Bierdeckel” hat Erasmus Scheuer, der Sohn des Autors, eine Zeichnung beigesteuert.
Manchmal wird es etwas zu mythenselig und wolkig in diesem Roman, aber die notwendige Erdung kommt von den „Grauköpfen”, eine Gruppe älterer Männer aus Kall, die sich jeden Morgen in der Cafeteria eines Supermarktes treffen. Da sitzen sie, tauschen den neuesten Tratsch aus, haben ihre auf Hochglanz polierten Autos dabei immer im Blick, und wirken manchmal wie das Gedächtnis eines ganzes Ortes: „sie seien so etwas wie der antike Chor, der im Hintergrund alles kommentiert, alles erklärt, Licht ins Dunkel bringt und doch vieles verheimlicht von dem, was er weiß”. So können die Leser mit ihrer eigenen Fantasie die Leerstellen füllen. Im Falle von Norbert Scheuers poetischer Spurensuche lohnt das auf jeden Fall.
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