Monika Schnitzer sieht Deutschland noch immer als ein wirtschaftlich starkes Land. „Wir müssen aber einiges dafür tun, dass es so bleibt“, sagt die Wirtschaftsweise.
Interview mit WirtschaftsweiseWie kommt Deutschland wieder auf Kurs, Frau Schnitzer?
Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer, seit Oktober erste weibliche Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung, hält nichts von einem Industriestrompreis. Welche Schritte die Beraterin der Bundesregierung angesichts der aktuellen Flaute für dringend notwendig hält, erklärt die 61-jährige Ökonomin im Interview mit Rena Lehmann. Was muss sich in Deutschland ändern?
Frau Schnitzer, der Internationale Währungsfonds sieht Deutschland inzwischen als schwächstes Glied unter den großen Wirtschaftsnationen. Wie konnte das passieren?
In der Corona-Pandemie waren Länder mit viel Tourismus besonders betroffen, die holen jetzt wieder auf. In der Energiekrise ist jetzt Deutschland als Land mit viel energieintensiver Industrie besonders stark getroffen von den Energiepreissteigerungen. In der Finanzkrise 2008/09 war das anders, da hat Deutschland von seiner starken Industrie profitiert. Die aktuelle Schwäche Deutschlands erklärt sich also durch die Art der Krise: Die Energiekrise trifft nun diesmal uns besonders hart.
Also alles erklärbar und halb so wild?
Die Krise bedeutet jedenfalls nicht, dass Deutschland grundsätzlich schlechter aufgestellt ist als andere Länder. Ganz im Gegenteil: Deutschland konnte in der Energiepreiskrise sehr viel mehr Unterstützung leisten als andere europäische Länder. Es ist noch immer ein wirtschaftlich starkes Land. Wir müssen aber einiges dafür tun, dass es so bleibt.
Braucht Deutschland ein Konjunkturprogramm wie in früheren Krisen, Stichwort Abwrackprämie?
Nein, das braucht Deutschland ganz sicher nicht. Die hohe Inflation zeigt ja, dass wir kein Nachfrageproblem haben. Wir haben eher zu viel Nachfrage für ein zu geringes Angebot. Sinnvoll könnte staatliche Nachfrage allerdings im Bausektor sein. Die hohen Zinsen führen dazu, dass private Bauvorhaben zurückgehen. Der Staat hatte sich aber vorgenommen, gerade im sozialen Wohnungsbau viel zu bauen. Es wäre jetzt ein günstiger Moment, um die staatliche Bautätigkeit zu erhöhen und zu verhindern, dass im Baubereich Kapazitäten abgebaut werden, die wir dringend brauchen.
Und was müsste sonst getan werden?
Die Bundesregierung müsste jetzt gezielt den Ausbau der erneuerbaren Energien vorantreiben. Die Stromtrassen von Nord nach Süd müssen rasch gebaut werden, um den Strom aus der Windenergie in den Süden zu bringen. Der Vorschlag von Regionen mit unterschiedlichen Strompreisen ist sehr überlegenswert, er würde den Anreiz deutlich erhöhen, den Ausbau der Trassen zu beschleunigen. Es ist auch nicht einzusehen, warum die Verbraucher im Norden höhere Netzengelte und dadurch höhere Strompreise zahlen, um den Ausbau der Infrastruktur zu finanzieren. Ganz wichtig sind auch Investitionen in Infrastruktur wie Brücken und für die Bahn. Dafür müsste man über 10 bis 20 Jahre stetige Investitionen planen. Sonst hält die Privatwirtschaft die Kapazitäten für den Ausbau nicht vor. Ein verstetigtes Investitionsprogramm wäre deshalb sinnvoll.
Wäre dann jetzt nicht der Moment für eine große Reform wie eine Agenda 2030, die den Reformstau endlich umfassend anpackt?
Eine Agenda 2030 wäre in der Tat wünschenswert, um die Transformation voranzubringen und dabei auch politisch eher undankbare Themen wie eine Verwaltungsreform und Bürokratieabbau mutig anzugehen. Ganz oben auf der Agenda sollte auch das Thema Bildung stehen. Das ist unser Kapital, von dem die Zukunft unseres Landes abhängt. Und gerade für Migranten ist Bildung die Chance für Integration und sozialen Aufstieg. Für manche Reformen bräuchte es ein parteiübergreifendes Vorgehen, um wirkliche Fortschritte zu erzielen. Beim Thema Rente zum Beispiel gibt es keine große Reform, weil es immer wieder zum Wahlkampfthema wird. Es wird aber gar nicht anders gehen, als dass es künftig Einschnitte gibt, wenn immer weniger Beitragszahler die Rente finanzieren müssen. Ähnlich wie bei der Bundeswehr, für deren Finanzierung parteiübergreifend ein Sondervermögen geschaffen wurde, sollte es auch eine parteiübergreifende Einigung auf eine mutige Rentenreform geben.
Wäre ein vorübergehender Industriestrompreis der richtige Weg, um energieintensive Unternehmen über die nächsten Jahre zu retten? In der Ampel-Koalition herrscht darüber Uneinigkeit.
Einen Industriestrompreis oder Brückenstrompreis halte ich nicht für den richtigen Weg. Es ist nicht damit zu rechnen, dass man den Preis nur vorübergehend subventionieren muss und dann mit dem Ausbau der Erneuerbaren genauso wettbewerbsfähige Strompreise hat wie andere Ländern. Wir haben derzeit höhere Energiepreise als andere Länder, und diese Preisdifferenz wird voraussichtlich auch bleiben, selbst wenn wir mehr erneuerbare Energien haben. Denn andere Länder bauen die Erneuerbaren ja auch aus. Und in Spanien scheint häufiger die Sonne, in anderen Ländern bläst mehr Wind. Die erneuerbaren Energien werden unsere Energiepreise verringern, aber dass wir die Differenz zu anderen ausgleichen, halte ich für unwahrscheinlich. Wir laufen Gefahr, mit der Subvention den Strukturwandel aufzuhalten.