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Interview mit MigrationsforscherWie lässt sich mehr Platz für Geflüchtete schaffen?

Lesezeit 5 Minuten
Geflüchtete aus der Ukraine stehen vor den Gebäuden einer Flüchtlingsunterkunft.

Köln: Geflüchtete aus der Ukraine stehen vor den Gebäuden einer Flüchtlingsunterkunft.

Im Gespräch nennt Boris Kühn konkrete Lösungsansätze, wie Kommunen die Krise besser bewältigen könnten.

Mit der wachsenden Zahl von Geflüchteten fühlen sich immer mehr Kommunen in NRW überfordert. Es fehle an Geld, Unterkünften, Betreuung, Schul- und Kitaplätzen. Zuletzt schlug der Städtetag NRW Alarm und forderte von Bund und Land deutlich mehr Geld als vorgesehen. „Die Städte steuern auf eine Belastungsgrenze zu“, hieß es. Mit jedem Tag wachse der Druck. Zugleich plant die Landesregierung neue Unterkünfte mit Tausenden Plätzen.

Die aktuelle Untersuchung von Boris Kühn von der Uni Hildesheim passt exakt in die angespannte Lage. In einer länderübergreifenden Recherche mit dem Titel „Kommunale Unterbringung von Geflüchteten – Probleme und Lösungsansätze“ analysiert er die Situation vor Ort und nennt konkrete Lösungsansätze, wie Kommunen die Krise besser bewältigen könnten. Christopher Onkelbach sprach mit dem Migrationsforscher.

In den letzten Wochen kam es in NRW immer wieder zu Protesten und Kritik von Bürgerinnen und Bürgern gegen die Einrichtung neuer Unterkünfte für Flüchtlinge. Sind die Kommunen überlastet?

Boris Kühn: Eine generelle Aussage dazu lässt sich schwer treffen. 2022 suchten 1,2 Millionen Menschen Schutz in Deutschland, davon allein rund eine Million Menschen aus der Ukraine. Die Aufnahme so vieler Menschen in so kurzer Zeit stellt die Kommunen vor zahlreiche Herausforderungen. Unsere stichprobenartige Recherche zum Stand der Unterbringung ergibt kein einheitliches Bild. Die Spanne reicht von einem öffentlich beklagten Notstand bis zu relativ entspannten Situationen. Wie gut Kommunen aktuell noch zurechtkommen, hängt auch davon ab, wie aktiv und konstruktiv sie vorgehen, etwa bei der Suche nach Wohnungen.

Also hängt es auch vom politischen Willen in den Kommunen ab?

Ein Dezernent hat uns bei unserer Recherche sinngemäß gesagt: Wir können uns jetzt voll darauf konzentrieren, gemeinsam die Probleme zu lösen. Oder wir können unsere Zeit damit verbringen, Alarm zu schlagen. Ich sage nicht, dass nicht beides möglich ist, aber es werden doch unterschiedliche Herangehensweisen sichtbar. Manche Kommunen gehen die Probleme mit den Verwaltungen aktiver an als andere. Dann hilft es, wenn man auf bestehende Strukturen und Netzwerke zurückgreifen kann.

Haben die Kommunen aus der Flüchtlingskrise 2015/16 also nichts gelernt?

Das ist von Kommune zu Kommune unterschiedlich. Wer in der letzten Krise Lösungen etabliert hat, ist jetzt im Vorteil – etwa ein Amt für Integrationsarbeit, eine Dauerstelle für die Wohnungssuche, Flüchtlingssozialarbeit, ein gutes Netzwerk von Ehrenamtlichen, Kooperationen mit Wohnungsgesellschaften oder bereitstehende Flächen für Wohncontainer.

Warum erwähnen Sie Wuppertal als positives Beispiel?

Die Stadt arbeitet langfristig mit privaten und kommunalen Vermietern zusammen. Man mietet Wohnungen zur Unterbringung in größerer Zahl an, die nach einer Übergangsfrist von den Geflüchteten übernommen werden können. Das ist entscheidend, um die Menschen schnell aus den Sammelunterkünften heraus und dezentral unterzubringen.

Aber nicht jede Kommune kann angesichts des Mangels Wohnraum vorhalten.

Das ist richtig. Und das ist politisch und finanziell auch gar nicht vertretbar. Aber eine kleine Reserve zu haben, kann in der Krise einen Puffer schaffen. In einigen Bundesländern gibt es Initiativen, dass Kommunen Kapazitäten vorhalten und dafür vom Land eine Entschädigung bekommen. So muss bei steigenden Zahlen nicht alles hektisch neu aufgebaut werden.

Viele Kommunen sagen, sie hätten bei den Unterkünften keine Kapazitäten mehr.

Unterbringungskapazitäten sind ja keine feste Größe. Natürlich wird die Akquise irgendwann immer schwieriger, wenn mehr Geflüchtete kommen. Wenn ein Bürgermeister in NRW aber sagt, er habe nur noch fünf Plätze frei, dann kann ich das nicht nachvollziehen. Wenn er drei Wohnungen anmietet, dann hat er schon 15 freie Plätze. Unterkünfte müssen laufend neu gebaut, akquiriert, angemietet, übergeben und umgeschichtet werden. Sie sind also Ergebnis von Verwaltungshandeln und politischer Steuerung. Je geschickter und flexibler eine Kommune vorgeht, desto besser gelingt das. Kommunen sollten daher rechtzeitig Unterbringungskonzepte erarbeiten.

Aber die Landesunterkünfte in NRW sind zu rund 90 Prozent ausgelastet…

Es hängt viel davon ab, dass die Menschen zügig aus den Unterkünften herauskommen, um Platz für neue Ankommende zu schaffen. In manchen Kommunen, auch in NRW, sind die Unterkünfte zu etwa 25 Prozent von Menschen belegt, die seit der Krise 2015/16 dort leben. Nötig ist ein Auszugsmanagement der Kommunen, das mit Wohnungsgesellschaften und Vermietern kooperiert und Flüchtlinge bei der Wohnungssuche aktiv unterstützt.

Benötigen die Kommunen mehr Geld für die Flüchtlingsarbeit?

Die Forderung der Kommunalen Spitzenverbände halte ich für absolut nachvollziehbar. Statt in Krisensituationen befristet Mittel bereitzustellen, ist ein nachhaltiges und flexibles System nötig, das automatisch die Mittel hoch und runter fährt je nach Entwicklung der Flüchtlingszahlen. Dann muss man nicht jedes Mal neu verhandeln.

Viele ehrenamtliche Helfer fühlen sich überlastet, wie kann man sie stärken?

Vielerorts kommen sie mit den wachsenden Zahlen an ihre Grenzen. Viele sind aber vor allem durch den Kampf mit den Behörden ermüdet. Oft fehlen klare Ansprechpartner oder Zuständigkeiten in den Ämtern, viele Ehrenamtliche kämpfen mit unnötiger Bürokratie und Personalmangel in den Behörden. Auch die Gefahrenabwehrtradition in den Ausländerämtern wurde noch nicht überall abgelegt.

Zuletzt häuften sich die Proteste gegen Unterkünfte. Versäumt es die Politik, die Menschen mitzunehmen?

Manchmal sicherlich. Die Angst vor Protesten kann dazu führen, Entscheidungen möglichst lange nicht transparent zu machen. Das fällt einem dann vor die Füße, wenn es sich dann doch herumspricht. Ein Teil der Wut ist sicherlich darauf zurückzuführen. Man sollte die Bürger daher frühzeitig einbinden und informieren. Denn Flucht wird ein Dauerthema bleiben.