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Rundschau-Debatte des TagesWas will Israel im Gazastreifen erreichen?

Lesezeit 5 Minuten
TOPSHOT - Children stand outside the Sabah family building that was hit by Israeli air strikes in Deir el-Balah in the central Gaza Strip on April 8, 2025.

Kinder stehen vor einem zerstörten Gebäude im Gazastreifen.

Die israelische Armee dringt immer weiter vor im Gazastreifen, die Zahl der Toten schnellt wieder in die Höhe. Welche Ziele verfolgt Israel auf lange Sicht in dem zerstörten Küstenstreifen?

Seit mehr als einem Monat lässt Israel keine lebenswichtigen humanitären Hilfsgüter mehr in den abgeriegelten Gazastreifen. Dies verschärft nach Angaben von Hilfsorganisationen das Leid der Zivilbevölkerung erheblich. Sie warnen eindringlich davor, humanitäre Hilfe zur Kriegswaffe zu machen. Nach zwei Monaten Dauer ist auch die Waffenruhe vorbei und die israelische Armee hat ihre massiven Angriffe wieder aufgenommen. Die Zahl der Todesopfer ist seitdem erneut in die Höhe geschnellt. Das erklärte Ziel der israelischen Regierung formulierte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erst wieder bei einem Treffen mit US-Präsident Donald Trump im Weißen Haus am Montag: „Wir sind entschlossen, alle Geiseln freizubekommen, aber auch die böse Herrschaft der Hamas in Gaza zu beseitigen.“ Inzwischen kontrollieren die israelischen Streitkräfte weite Teile des weitgehend zerstörten Gazastreifens.

Warum stecken die Gespräche zwischen Israel und der Hamas in einer Sackgasse?

Israel und die Hamas führen unter Vermittlung der USA, Katars und Ägyptens indirekte Gespräche über eine neue Waffenruhe im Gazastreifen. Das zentrale Problem: Die Hamas ist nur zur Freilassung der verbleibenden 24 Geiseln und Übergabe der 35 Leichen von Entführten bereit, wenn Israel einem vollständigen Kriegsende zustimmt. Dies will Israel aber nur tun, wenn die Hamas ihre Herrschaft im Gazastreifen aufgibt.

Welches Ziel verfolgt Israel  langfristig im Gazastreifen?

Das langfristige Ziel sei nicht eindeutig, sagt Michael Milshtein, Experte für palästinensische Studien an der Universität Tel Aviv. „Das Motto war am Anfang militärischer Druck, um die Hamas zu mehr Flexibilität (bei den Verhandlungen) zu bewegen.“ Trotz harter Schläge gegen die Terrormiliz sei dies bislang nicht geschehen. Gleichzeitig erobere die Armee immer weitere Teile des Küstenstreifens. Große Sorge bereitet Milshtein die Möglichkeit, dass die rechtsreligiöse Regierung von Netanjahu eine „versteckte Agenda“ verfolgen könnte, etwa die Eroberung Gazas und die Einrichtung einer Militärverwaltung. Sollte dies geschehen, werde es sich auf Jahre stark auf das Leben aller Israelis auswirken. Auch der israelische Sicherheitsexperte Ofer Guterman sagte, viele Menschen fragten sich, was die „wahren Ziele“ seien. Es bestehe die Sorge, persönliche Erwägungen Netanjahus, gegen den seit Jahren ein Korruptionsprozess läuft, könnten die Entscheidung beeinflussen.

Strebt Israel eine Ausreise von Palästinensern aus Gaza an?

Netanjahu bekräftigte zuletzt, Ziel seiner Regierung sei es, den Plan von US-Präsident Trump für den Gazastreifen umzusetzen. Trump hatte Anfang Februar gesagt, die USA wollten das kriegszerstörte Gebiet übernehmen, wieder aufbauen und zu einer „Riviera des Nahen Ostens“ machen. Die mehr als zwei Millionen Palästinenser müssten umgesiedelt werden. Trumps Äußerungen lösten in der arabischen Welt und darüber hinaus Empörung aus. Er sagte später, die Palästinenser sollten nicht gewaltsam vertrieben werden. Netanjahu lobte Trumps Plan als „mutige Vision“. Man wolle „den Menschen in Gaza die freie Entscheidung ermöglichen, wohin sie gehen wollen“. Milshtein sagte dazu, er habe den Eindruck, dass die israelische Führung gegenwärtig „Fantasien oder Illusionen einer geregelten Politik vorzieht“. Er sehe die Wahrscheinlichkeit einer Umsetzung des Trump-Plans für den Gazastreifen bei null. „Es gibt keine Ausreisewelle aus dem Gazastreifen.“ Es gebe auch keine realistische Möglichkeit einer Aufnahme durch Drittländer. Auch Guterman sieht eine „freiwillige Migration“ nicht als realistische Strategie. „Der jüdische Staat sollte sich fragen, ob dies in Ordnung ist – nicht nur mit Blick auf unsere Vergangenheit, sondern auch auf die Zukunft“, sagte er. „Wenn man den Großteil von Gaza zerstört hat, wenn man sie aktiv zum Verlassen des Gebiets ermutigt, ist es dann wirklich freiwillig? Ich denke, viele auf der Welt würden es als ethnische Säuberung ansehen.“

Möchte Israel den Gazastreifen wieder besetzen?

Rechtsextreme Koalitionspartner Netanjahus fordern seit längerem eine Wiederbesetzung und Wiederbesiedlung des Gazastreifens, aus dem Israel sich vor 20 Jahren zurückgezogen hat. Milshtein warnt jedoch vor den Folgen: „Man müsste über zwei Millionen Menschen herrschen, in einem völlig zerstörten Gebiet.“ Israel wäre dann für alle Grundbedürfnisse der Bevölkerung zuständig. Milshtein sprach von Kosten in Milliardenhöhe.

Für eine Wiederbesetzung wären nach seinen Worten zudem noch deutlich mehr Soldaten notwendig. Aber unter israelischen Reservisten sinke die Bereitschaft, „in einem Krieg zu kämpfen, dessen Ziel ihnen nicht klar ist“. Das Vorhaben der Regierung, gleichzeitig die Geiseln zu befreien und die Hamas zu besiegen, hält Milshtein für unrealistisch. „Es kann gut sein, dass sich die Regierung für eine Eroberung Gazas entschieden hat.“ In dem Fall gehe er aber nicht davon aus, dass Geiseln in den Händen der Hamas am Leben bleiben werden.

Warum teilt die Armee den Gazastreifen in drei Teile auf?

Israelische Truppen sind zuletzt in den sogenannten Morag-Korridor vorgerückt, der die Städte Rafah und Chan Junis im Süden des Küstengebiets voneinander trennt. Zusammen mit dem weiter nördlich gelegenen Netzarim-Korridor entsteht so faktisch eine Dreiteilung des Gazastreifens. Verteidigungsminister Israel Katz sprach von eroberten Gebieten, die als israelische „Sicherheitszonen“ dienen sollen. Milshtein sprach von einem Versuch, eine breitere Pufferzone zwischen dem Gazastreifen und der ägyptischen Sinai-Halbinsel zu schaffen – mit dem Ziel, „alles zu kontrollieren, was in den Gazastreifen kommt und ihn verlässt“.

Ist die Zerstörung der Hamas ein realistisches Ziel?

Guterman glaubt, die israelische Armee könne die Hamas binnen einiger Jahre zwar massiv dezimieren, aber nicht komplett zerstören. „Die Hamas ist keine externe Kraft, sondern tief im Gazastreifen verwurzelt.“ Man könne sie nicht beseitigen, ohne etwas Neues zu pflanzen – etwa eine gemäßigte palästinensische Führung. Eine solche habe jedoch nur eine echte Chance, wenn die Hamas vollständig entwaffnet werde. Die Bewohner des Gazastreifens müssten eine echte Perspektive für eine bessere Zukunft erhalten, sagte Guterman. Dafür müsse man auch die moderaten arabischen Staaten einbinden. „Israelis und Palästinenser sind an einem Punkt angelangt, wo wir unsere Probleme nicht mehr alleine lösen können“, sagte Guterman. „Wir brauchen Hilfe von außen.“ (dpa)