Trotz politischen Drucks hält die Evangelische Kirche am Prinzip des Kirchenasyls fest. Bischöfin Kirsten Fehrs sieht in der Gewährung von Schutz und Zuflucht eine christliche Pflicht und kritisiert Abschiebungen.
Bischöfin Kirsten Fehrs„Tradition des Kirchenasyls wird es auch in Zukunft geben“
Die Kommunen ächzen unter der hohen Zahl von Flüchtlingen. Die Parteien diskutieren über Verschärfungen des Asylrechts. Doch eine Institution sieht keinen Veränderungsbedarf: Die Evangelische Kirche hält selbst Abschiebungen nach Schweden für ein Problem, sagt die amtierende Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs im Gespräch mit Benjamin Lassiwe. Warum ist das so?
Bischöfin Fehrs, die EKD will sich auf ihrer Synode Anfang November mit dem Thema Flüchtlingspolitik beschäftigen. Muss sich die Kirche da neu orientieren?
Wir werden über die ganze Komplexität des Themas reden. Darüber, wie sich die Migrationsdebatte im Moment verschärft hat, über die Frage nach Fluchtursachen bis hin dazu, wie eine Migrations- und Einwanderungspolitik, die menschenwürdig ist, europaweit gelingen kann. Für uns als Kirche ist dabei elementar: Wir planen keine Abkehr von unserem Prinzip, uns klar für Menschen, die Schutz brauchen, einzusetzen. Viele geflüchtete Menschen kommen aus Ländern, die im Krieg sind, die Not leiden. Diesen Menschen wollen wir hier Zuflucht gewähren. Schließlich erinnert uns schon die Bibel daran, barmherzig zu sein, mitmenschlich zu handeln und gefährdete, bedrohte und schwache Menschen zu schützen.
Debatten gab es in den letzten Monaten um das Kirchenasyl. In NRW, Hamburg und Schleswig-Holstein wurde es mehrfach gebrochen. Ist dieses Instrument kirchlicher Flüchtlingsarbeit heute noch haltbar?
Die lange und gut begründete Tradition des Kirchenasyls wird es auch in Zukunft geben. Unsere Gemeinden leisten damit nicht nur Nothilfe, wenn Menschen bei drohender Abschiebung Gefahr für Leib und Leben droht. Sie leisten damit auch einen Dienst zur bleibenden Humanität einer Gesellschaft insgesamt, indem sie Gerechtigkeitslücken identifizieren. Auch eine noch so gute Rechtsprechung kann fehlerhaft sein. Es geht also um Menschen, die sich in absoluten Härtefallsituationen befinden und bei denen es die begründete Annahme gibt, dass etwas im Asylverfahren übersehen oder nicht genügend berücksichtigt wurde. Die Kirchengemeinden, die Kirchenasyl gewähren, tun das nicht leichtfertig. Es besorgt mich deswegen, dass es zuletzt öfter zu Übergriffen und Abschiebungen aus dem Kirchenasyl gekommen ist.
Bei vielen dieser Abschiebungen geht es um Überstellungen im Rahmen des Dublin-Verfahrens. Sind das wirklich Härtefälle?
Bei vielen Kirchenasylen geht es um Abschiebungen in andere europäische Länder. Der Härtefall besteht nicht darin, wohin abgeschoben wird, sondern besteht in der Situation selbst. Das heißt, es handelt sich zum Beispiel um Menschen, die schwerkrank sind und die einer medizinische Versorgung bedürfen, die dort nicht gewährleistet ist. Und: Beispielsweise im Fall von Schweden drohen auch Kettenabschiebungen.
Nochmal: Es geht um Länder wie Schweden, Dänemark, Österreich oder Italien. Warum kann den Menschen dort die nötige Versorgung nicht geboten werden?
Weil es sich hier um Länder handelt, die in der Flüchtlingspolitik zunehmend nach dem Prinzip „Brot – Bett – Seife“ arbeiten und Geflüchteten nur die nötigste Versorgung bieten. Gerade Kinder leiden darunter. Bis vor kurzem etwa befanden sich in ganz Hamburg 32 Menschen in 15 Kirchenasylen – aber davon 16 Kinder. Und das ist die Realität des Kirchenasyls.
Die Debatte um die Flüchtlingspolitik hat sich vor allem durch das Auftreten islamistischer Gruppen verschärft. Wie tritt die Kirche dem Phänomen Islamismus entgegen?
Das, was wir in Solingen erlebt haben, ist furchtbar. Und davor müssen Menschen geschützt werden. Dazu ist es aber notwendig, zu unterscheiden, ob wir es mit Menschen zu tun haben, die wie in diesem Falle dschihadistische Fanatiker sind, mit einem antidemokratischen, homophoben, frauenfeindlichen, Weltbild. Oder ob wir es mit Menschen zu tun haben, die einfach nur in Frieden ihren Glauben leben wollen. Diesen Menschen reichen wir als Kirche die Hand – von den anderen distanzieren wir uns.
Hat die Kirche in der Vergangenheit immer den richtigen Menschen die Hand gereicht?
Das würde ich schon sagen: Wenn Sie die Blaue Moschee in Hamburg nehmen, deren Arbeit vor einiger Zeit verboten wurde – da haben wir niemandem die Hand gereicht. Da haben wir entschieden kritisch immer wieder gegengehalten und im Rahmen des interreligiösen Dialogs versucht, deutlich zu machen, dass die Unterstützung einer Protestdemonstration zum Al-Quds-Tag und die Infragestellung des Existenzrechts Israels in gar keiner Weise mit unseren interreligiösen Prinzipien übereinstimmt.
Was heißt das für den Umgang mit Gruppen, die im Moment für die Freiheit Palästinas protestieren? Wie geht die Kirche damit um?
Mit dem Anschlag am 7. Oktober haben wir einen der grausamsten Angriffe der Geschichte auf Israel erlebt. Und wir erleben, wie es in der Folge auch bei uns eine Zunahme an antisemitischen Vorfällen gibt. Das ruft unsere Solidarität mit den Jüdinnen und Juden in unserem Land immer wieder aufs Neue hervor. Uns allen steht ebenso das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung vor Augen. Auch deswegen braucht es jetzt dringend eine Waffenruhe im Nahen Osten und Verhandlungen. Aber dass wir als Kirche solidarisch mit dem Volk Israel sind, daran gibt es für mich keinen Zweifel.
Ein Thema, das die Kirche seit langem beschäftigt, ist die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs. Betroffenenvertreter haben oft zu geringe Anerkennungsleistungen beklagt. Wie geht man damit um?
Bei den Anerkennungsleistungen verändern wir zwei Dinge: Wir arbeiten künftig nach einer Anerkennungsrichtlinie, um bundesweit einheitliche Verfahren zu erreichen. Es geht ja um Fälle, die strafrechtlich oft längst verjährt sind. Deswegen haben wir länger schon Anerkennnungskommissionen geschaffen, die darüber entscheiden, ob jemand Leistungen in Anerkennung des erlittenen Leids erhält. Neu ist, dass jeder Betroffene ein Recht auf ein Gespräch mit den Kommissionen erhalten soll, dass also nicht nur nach Aktenlage entschieden wird. Und es bleibt bei einer reinen Plausibilitätsprüfung. Ist diese erfolgt, soll es weiter individuelle Leistungen für die Betroffenen geben – aber neu ist, dass es zusätzlich zu den individuellen Leistungen eine pauschale Leistung geben wird, die dann gezahlt wird, wenn es sich um strafrechtlich relevante Taten handelt. Das verdanken wir den betroffenen Menschen im Beteiligungsforum, die sich mit wirklich viel Energie für diese gute und fundierte Lösung eingesetzt haben.
Wie hoch werden die Anerkennungsleistungen künftig sein?
Dafür gibt es keine Obergrenze. Wir reden von individuellen Leistungen je nach dem Erlebten und der Situation der betroffenen Menschen.
Warum sollten Betroffene sexuellen Missbrauchs an dieser Stelle mitmachen, anstatt vor einem weltlichen Gericht den Klageweg zu beschreiten? Der Fall eines katholischen Betroffenen in Köln hat zu einer Schmerzensgeldzahlung von 300000 Euro geführt.
Natürlich steht immer der Klageweg offen. Doch wer vor einem staatlichen Gericht klagt, muss das Erlebte beweisen können. Aber in vielen Fällen dürfte es schwer dokumentierbar sein, was einem Menschen geschehen ist. Das wollen wir den Betroffenen ersparen. Deswegen reicht bei den kirchlichen Anerkennungsverfahren die Plausibilitätsprüfung. Sie sind ein niedrigschwelliger Weg, um Menschen etwas zukommen zu lassen, was ihnen zusteht.