Die Maßnahmen des Bundes und des Landes NRW gegen Lieferengpässe bei Arzneien verpuffen. Die Lage wird sogar schlimmer als noch 2022. Verbände sehen die Politik in der Pflicht.
Rundschau-Debatte des TagesWas läuft schief bei der Versorgung mit Arzneien?
Im vergangenen Winter war der Mangel an Arzneien ein Problem in NRW. Das Problem scheint sich 2023 nicht nur zu wiederholen, sondern sogar noch zuzuspitzen.
Wie ist die Versorgungslage?
Nach Einschätzung von Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbandes Nordrhein, ist sie sehr ernst: „Wir gehen leider in diesem Jahr so schlecht in den Winter wie noch nie. Gegenüber dem Vorjahr haben sich die Lieferengpässe um mehr als 30 Prozent erhöht.“ Aktuell gebe es offiziell Lieferprobleme bei 520 Medikamenten, tatsächlich sei diese Zahl aber um ein Vielfaches höher, so Preis. Jedes zweite Rezept sei von den Engpässen betroffen: „Das heißt, dass in Deutschland jeden Tag etwa 1,5 Millionen Menschen diese Probleme haben.“
Welche Medikamente fehlen derzeit besonders?
Der Mangel betreffe alle Medikamentenarten, erklärt der Apothekerverband Nordrhein. „Große Sorgen macht uns der Mangel bei den Antibiotika, insbesondere bei Antibiotika-Säften für Kinder“, sagt Preis. Erschwert sei zum Beispiel auch die Versorgung von Diabetikern mit Insulin und Medikamenten. Die Apotheken arbeiteten am Limit. Dennoch könnten sie sicherstellen, dass aus den Liefer- keine Versorgungsengpässe werden.
Der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Dr. Hans-Albert Gehle, erneuert angesichts der anhaltenden Krise seinen Appell: „Es kann nicht sein, dass fiebersenkende Medikamente für Kinder, Asthmasprays, Blutdrucksenker, Antibiotika oder Medikamente gegen Brustkrebs nicht lieferbar oder nur schwer erhältlich sind. Solche alltäglichen Medikamente müssen vorrätig sein.“
Was bedeutet das für Kinder und Jugendliche?
„Wir starten gerade in die Infekt-Saison. Der große Arzneimittel-Mangel kommt erst noch auf uns zu, voraussichtlich ab Januar“, warnt Dr. Axel Gerschlauer, Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein.
Was raten Experten den Bürgerinnen und Bürgern?
„Wer dauerhaft auf Medikamente angewiesen ist, sollte nicht bis zur letzten Tablette warten. Besorgen Sie sich rechtzeitig ein neues Rezept, und lösen Sie es schnell in der Apotheke ein“, rät Thomas Preis. Kinderarzt Gerschlauer empfiehlt betroffenen Familien, sich bei der Politik zu beschweren, denn die habe bei der Arzneimittelversorgung versagt: „Schreibt an eure Landtags- und Bundestagsabgeordneten.“
Wie versuchen Bund und Länder die Versorgungslage zu verbessern?
Seit Juli ist das „Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz“ in Kraft. Medizinhersteller können nun zum Beispiel höhere Preise für Kindermedikamente verlangen, es gibt eine Pflicht zur Lagerung wichtiger Arzneien, und bei Antibiotika sollen Hersteller, die in Europa produzieren, bevorzugt werden. Außerdem haben NRW und andere Länder die Regeln für die Einfuhr von in der EU nicht zugelassenen Arzneien gelockert.
Wirken die beschlossenen Maßnahmen gegen den Mangel?
Beim Bundes-Arzneimittelgesetz sind sich Preis und Gerschlauer darin einig, dass die Wirkung „gleich null“ sei. „Das Versprechen, die Bedingungen für die Arzneimittelhersteller zu verbessern, wurde nicht eingelöst. Die Herstellung in Deutschland und in Europa ist für die Firmen heute genau so unattraktiv wie vorher“, erklärt Gerschlauer.
Nicht einig sind sich der Apotheker und der Kinderarzt bei der Beurteilung der Maßnahmen in NRW. „Das hat sogar in vielen Fällen zu einer Verschlechterung der Versorgung beigetragen, weil wir jetzt Medikamente bekommen, die sehr erklärungsbedürftig sind. Die Beipackzettel und die Verpackung sind oft fremdsprachig. Wir bekommen Antibiotika-Säfte aus den USA, die nicht der EU-Zulassung entsprechen und deren Beipackzettel durch Künstliche Intelligenz übersetzt wurden“, gibt Preis zu Bedenken. Oftmals fehlten auch die Dosierhilfen.
Gerschlauer hält die Lockerung der Regeln in NRW für den Import von Arzneien ohne EU-Zulassung dagegen für eine gute Idee: „Man muss dankbar sein für jedes gute Medikament, das importiert werden kann. Ob der Beipackzettel fremdsprachig ist oder nicht, ist am Ende nicht entscheidend.“
Gibt es bessere Rezepte gegen Medikamentenmangel?
Nötig sei eine echte Wende, meint Apotheker Preis. Der Staat müsse dafür sorgen, dass Menschen ausreichend Medikamente zur Verfügung haben. „Wir müssen weg von der Sicht, Arzneimittelversorgung sei ein reiner Kostenfaktor. Versorgungssicherheit muss vor Wirtschaftlichkeit gehen.“ Die Politik müsse mit der Arzneimittel-Industrie die Voraussetzungen für eine Rückkehr nach Europa aushandeln und den Bürgern ehrlich sagen, dass Medizin teurer werde, meint Gerschlauer. Auf die Schnelle seien die Probleme jedenfalls nicht zu beheben: „Ein Baum ist schnell gefällt, aber er wächst nur sehr langsam nach.“ Jahrzehntelang sei die Maxime von Gesundheitsministerinnen und -ministern in Deutschland „Geiz ist geil“ gewesen.