Rundschau-Debatte des TagesLiefert Deutschland genug Waffen an die Ukraine?
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Die Militärhilfe für die Ukraine läuft nach und nach an.
Olaf Scholz nimmt eine Führungsrolle für die Bundesrepublik in Anspruch.
Doch Militärexperten sind sich einig: Das Land kann und muss mehr tun.
Berlin – Vor dem G7- und dem Nato-Gipfel war Kanzler Olaf Scholz bemüht, in Sachen Waffenlieferungen an Kiew in die Offensive zu gehen. Die Liste mit bereits übergebenen und noch geplanten Systemen wurde veröffentlicht. Deutschland liefere schon jetzt „die meisten Waffen“, sagte der Kanzler mehrfach und beansprucht für sich eine Führungsrolle. Wir haben bei Militärexperten nachgefragt.
Liefert Deutschland die meisten Waffen aller Staaten an Kiew?
„Da muss Olaf Scholz etwas wissen, was wir nicht wissen“, sagt Sönke Neitzel, Militärhistoriker der Uni Potsdam. „Auf Grundlage der öffentlich zugänglichen Informationen stimmt dies nicht. Die USA standen und stehen beispielsweise auf einem ganz anderen Niveau.“
„Nein, das stimmt nicht“, sagt auch Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR). „Auch wenn Deutschland mehr liefert als es im öffentlichen Diskurs den Anschein hat, liefern Polen oder Großbritannien weit mehr, von den USA ganz zu schweigen.“ In den deutschen Listen kämen auch Waffen vor, die die Ukraine gekauft habe. „Es riecht alles ein wenig nach übertriebenem Geltungsbedürfnis.“
Der frühere Bundestagspräsident und heutige Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Norbert Lammert (CDU), warnt vor einem Rückgang der Zustimmung für die Unterstützung der Ukraine in der deutschen Bevölkerung. Unserer Redaktion sagte er: „Es ist keineswegs sicher, dass die neuen Mehrheiten für militärische Nachrüstung und Waffenlieferungen auch in Kriegsgebiete nachhaltige Veränderungen sind. Wir erleben doch schon jetzt eine Erosion an Zustimmung, wie es bei der Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen 2015 zu beobachten war.“ Den Begriff der „Zeitenwende“, von der Kanzler Olaf Scholz (SPD) nach der russischen Invasion sprach, nannte Lammert „problematisch“: „Die Schnelligkeit, mit der sich die politische Klasse auf diesen Begriff geeinigt hat, halte ich eher für ein Indiz der gemeinsamen Verlegenheit, über Jahre hinweg Veränderungen verdrängt zu haben.“ (rl)
Dieser „Beauty Contest“ sei nicht sonderlich sinnvoll, findet Gressel. Es gebe ein elementares Interesse aller Europäer, dass die Ukraine diesen Krieg gewinne und der russische Militarismus und Expansionismus einen Dämpfer bekomme. „Deshalb ist es in unserem eigenen Interesse, die militärische Abwehrfähigkeit der Ukraine zu stärken, mit allem, was wir entbehren können“, sagt er.
Hätte Deutschland mehr an militärischen Gütern zu bieten?
Gerungen wird hinter den Kulissen um Kampf- und Schützenpanzer, also Angriffswaffen, die bislang weder aus den USA noch aus Deutschland kommen. Die diesbezügliche Zurückhaltung der Nato sei der deutschen Befürchtung geschuldet, man könne in den Krieg gezogen werden, so Gressel. „Andere Staaten in der Nato sehen das grundsätzlich anders und würden eine Änderung der deutschen Position sehr begrüßen.“
Nach seinen Angaben hat in Europa nur Deutschland gebrauchte, nicht mehr verwendete Kampfpanzer und Schützenpanzer: 188 Leopard 1, etwa 300 Leopard 2 und 130 Marder. Nur die USA säßen noch auf ausrangierten Kampf- und Schützenpanzern, die man abgeben könnte. Washington zögere unter anderem, um den Russen drohen zu können: „Das geben wir frei, wenn ihr Massenvernichtungswaffen einsetzt.“
Neitzel erkennt zwar an, dass Scholz moderne Panzerhaubitzen und Geparden aus dem Bundeswehrbestand liefert. „Aber machen wir uns nichts vor: Eine substanzielle Stärkung ist das nicht, dazu müsste Deutschland mehr tun. Es kann mehr tun, will aber schlicht nicht.“
Wo bleibt dann die deutsche Führungsrolle?
Neitzel kann sie nicht erkennen, auch keinen echten Kurswechsel feststellen. Nach dem russischen Angriff habe die Bundesregierung zwar unter massivem internationalen Druck beschlossen, Waffen an die Ukraine zu liefern. Dabei habe sie aber sorgfältig darauf geachtet, einerseits nicht zu viel zu tun und andererseits nicht zu sehr hinter den Bündnispartnern zurückzufallen.
Das Urteil des Historikers: „Diesen Kurs des ,ja, aber‘, des Verweigerns einer Führungsrolle, des Getriebenen, dessen Strategie erratisch bleibt, verfolgte die Regierung in allen sicherheitspolitischen Krisen der letzten 30 Jahre. Und daran hat sich bis jetzt wenig geändert.“
Ähnlich sieht es Gressel: Olaf Scholz habe „leider das Mantra ,Wir dürfen nicht zur Kriegspartei werden‘ und ,Wir wollen nicht in einen Weltkrieg schlittern‘ – Kaiser Wilhelm lässt grüßen – zu sehr zur Schau gestellt“, findet er. „Das hat Putin ermutigt, denn er sieht, dass seine Drohungen funktionieren.“
Schlägt Russland längst gegen Deutschland zurück?
Im Regierungsviertel sieht man einen direkten Zusammenhang zwischen den deutschen Waffen und der Drosselung der russischen Gaslieferungen. „Putin schlägt zurück“, sagt ein Koalitionär. Die Sorge ist real, Putin könnte den Gashahn komplett und dauerhaft zudrehen, sollte Deutschland Kampf- und Schützenpanzer an die Front schicken.
Der Zusammenhang zwischen Waffen und Gasmenge „erscheint mir sehr plausibel“, sagt auch Neitzel. Aber deswegen Kiew im Stich lassen, das wäre falsch. „In diesem Konflikt kann es aus unserer Sicht nur um die Eindämmung Russlands gehen, darum, unsere regelbasierte Ordnung zu verteidigen. Dafür haben auch wir einen Preis zu bezahlen“, sagt er.
Moskau versuche ganz Europa, nicht nur Deutschland, vermehrt unter Druck zu setzen, analysiert Russland-Experte Gressel. Dazu gehörten neben Drosslungen von Gaslieferungen auch Cyberangriffe und des Eindringen in den Luftraum. „Aber da müssen wir jetzt durch.“