Die angespannte Lage an den Kinderkliniken und in den Praxen könnte sich weiter zuspitzen, warnt Kinder- und Jugendärztepräsident Thomas Fischbach. Im Gespräch mit Tobias Schmidt macht er Vorschläge, um die Krise zu entschärfen.
Kinderärztepräsident Fischbach im Interview„Die Vorschläge von Karl Lauterbach sind irrwitzig“
Kinderkliniken und -praxen sind ‚vielerorts‘ überlastet. Wie kritisch ist das?
Kliniken und Praxen werden gerade überrannt von Eltern mit Kindern aller Altersstufen. Besonders die Kleinen leiden oft schwer, bis hin zu Atemnot und Sauerstoffunterversorgung. Sogar Neugeborene mit RSV-Infektion rauschen manchmal regelrecht ab, weil sie nicht genug Luft bekommen und in Kliniken dann mit Sauerstoff versorgt werden müssen. Bei Corona-Infektionen bei Kindern haben wir das nicht gesehen. RSV, Influenza, Rhinoviren: Das sind die Probleme.
Können noch alle Kinder angemessen versorgt werden?
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Es gibt einen erheblichen Bettentourismus, weil viele Kliniken voll belegt sind. Ich selbst habe eine 15-jährige Patientin, für die ich seit Wochen keinen Platz in einer Fachklinik finde. Und der Massenansturm geht auf Kosten der Behandlungsqualität, sodass wir uns nur noch um wirklich ernste Fälle kümmern können. Das liegt auch am sehr hohen Krankenstand der Mitarbeiter. Wir sind in einer gefährlichen Situation für die Kinder, besonders für die Kleinsten.
Droht eine Zuspitzung?
Ich befürchte ja. Denn normalerweise stehen wir Anfang Dezember erst am Beginn der Erkältungssaison. Die Spitze der Infektionswelle steht also noch vor uns.
Sehen Sie Möglichkeiten, die Viren zu bremsen?
Der Schrei nach Masken ist der übliche Reflex der Politik. Dabei ist die Maskenpflicht der zurückliegenden zwei Jahre ja ein wichtiger Grund für die aktuelle Krise. Denn wegen der Masken sind weder die Immunsysteme der Kinder noch der Eltern trainiert worden. Auch vielen Müttern von Neugeborenen fehlt es an Antikörpern, das schwächt auch das Abwehrsystem der Kinder. Daher sehe ich nicht, wie eine neue Maskenpflicht helfen könnte, besser durch die kommenden Wochen zu kommen.
Was könnte denn helfen?
Die Vorschläge von Gesundheitsminister Karl Lauterbach sind irrwitzig. Pflegekräfte aus dem Erwachsenenbereich in der Pädiatrie einzusetzen, das ist an Absurdität nicht zu überbieten. Auch telefonische Beratungen oder Krankschreibungen sind realitätsfern, weil in den Praxen das Telefon nicht mehr still steht und wir das nach den Vorstellungen von Herrn Lauterbach gratis machen sollen. Was uns helfen würde, wäre ein Ende der Attestitis. Bei jeder laufenden Nase müssen Eltern ein Attest abgeben, wenn sie ihr Kind nicht in Kita oder Schule schicken. Eine Befreiung von der Attestpflicht für Kita- und Schulkinder bei milden Atemwegserkrankungen könnte auch die Praxen zumindest etwas entlasten.
Was sind tieferliegenden Gründe der Krise?
15, 20 Jahre lang wurden die Behandlungsmöglichkeiten in der Pädiatrie eingedampft. Die Politik, sowohl im Bund als auch in den Ländern, hat die Gesundheitsversorgung der Kinder kaputtgespart. Es fehlen Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und medizinische Fachangestellte, und die wachsen nicht auf Bäumen. Dabei war klar, dass weniger Mediziner und weniger Nachwuchskräfte eine steigende Zahl an Kindern versorgen müssen. Um die demografische Entwicklung zu lesen, braucht es keinen Professorentitel. Die Einführung einer generalistischen Pflegeausbildung hat das Problem verschärft, denn deswegen gibt es noch weniger Kinderkrankenpfleger. Seit Jahren lässt man uns im Regen stehen und hilft an keiner Stelle.
Was also ist zu tun?
Für Kinderärzte, Pflegekräfte und Fachangestellte muss die Arbeit wieder attraktiver werden. Und das heißt auch: Es braucht mehr Geld. Medizinische Fachangestellte haben eine verantwortungsvolle Tätigkeit und müssen dafür angemessen entlohnt werden. Und wenn man zu Recht erwartet, dass wir Ärztinnen und Ärzte auch in Krisensituationen mit vollem Engagement alles für die Kinder geben, dann muss man auch uns angemessen bezahlen. Und das ist nicht der Fall, obwohl uns das schon die Vorgängerregierung versprochen hatte.
Für die Krankenhäuser sind ja eigentlich die Länder verantwortlich. Sehen Sie hier trotzdem eine Mitschuld bei Herrn Lauterbach?
Die Krankenhausplanung und damit die Bereitstellung von Investitionsmitteln liegt in der Tat in der Verantwortung der Länder. Die Länder haben sich um Kosten in Höhe von 35 Milliarden Euro in den letzten 10 Jahren gedrückt. Aber das Fallpauschalensystem, das für die Behandlung jedes einzelnen Kindes zu wenig Mittel bereitstellt, kann nur vom Bund geändert werden. Im Übrigen ist es doch der Job des Bundesgesundheitsministers, solche Fragen des föderalen Dschungels mit seinen Länderkollegen zu beheben. Wir lassen uns nicht mehr damit abspeisen, dass Bund und Länder die Verantwortung hin und her schieben. Ich setze auch darauf, dass die Eltern den Druck auf die Politik erhöhen, damit diese endlich reagiert, anstelle den heillos überforderten Praxismitarbeitern Stress zu machen.
Minister Lauterbach hat eine große Krankenhausreform angekündigt. Weniger Ökonomie, mehr Medizin. Gibt Ihnen das Hoffnung?
Die Reformpläne sind einmal mehr nichts als wohlfeile Worte. Bislang hat der Minister so gut wie nichts hinbekommen. Ich habe wenig Zuversicht, dass es sich mit den Ankündigungen vom Mittwoch anders verhalten wird. Zumal der Ansatz, fehlende Ärztinnen und Ärzte durch neue Strukturen wie Gesundheitskioske oder Medizinische Versorgungszentren zu ersetzen, in die Sackgasse führt, weil auch dafür Personal fehlt und die individuelle Medizin auf der Strecke bliebe. Der Fairness halber sei ergänzt, dass Herr Lauterbachs Vorgänger gleichermaßen dabei versagt haben, für gute ambulante und stationäre Behandlungskapazitäten zu sorgen.